• 17.02.2006, 20:25:56
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"Kleine Zeitung" Kommentar: "Europa auf dem Rückzug: Wo bleibt die Wertegemeinschaft?" (von Hubert Patterer)

Ausgabe vom 18.02.2006

Graz (OTS) - Bundespräsident Heinz Fischer sprach Donnerstagnacht
in der Zeit im Bild über den Karikaturenstreit. Was er sagte,
verdient eine Nachlese, weil sich in seinem behutsamen Abwägen,
seiner Dialektik mit der Pinzette, das ganze argumentative Elend
Europas in dieser Frage spiegelt, letztlich deren Haltungs- und
Mutlosigkeit.

Fischer sprach vom "kränkenden Tabubruch", aber er meinte nicht den
zivilisatorischen Tabubruch, begangen durch das Abfackeln von
Botschaften oder den Boykott dänischer Waren, er meinte auch nicht
die Demo-Transparente in London, auf denen das "Abschlachten von
Beleidigern des Islam" gefordert wurde, nein, der Präsident meinte
die dänische Zeitung und ihre missratenen Pennäler-Karikaturen.

Natürlich hieß Fischer die Gewaltexzesse nicht gut, aber deren
Verurteilung geriet zur rhetorischen Routine, und als Saldo blieb -
wie in so vielen anderen verharmlosenden Stellungnahmen europäischer
Politiker - der Tadel der ungezogenen Medien, der Appell zur Mäßigung
und die schuldbewusste Selbstanklage des ach so unsensiblen Westens.

Noch etwas verstörte: Fischer vertrat die Rechtsmeinung, dass die
Verhaltensvorschrift einer Religion auch über die
Glaubensgemeinschaft hinaus Gültigkeit habe. Er bezog sich dabei auf
das Abbildungsverbot des Propheten Mohammed. Fraglos: Takt und
Respekt gebieten, dass man man eine solche Norm achtet, aber eine
Unterwerfungspflicht über die Konfession hinaus?

Fischer betrat hier nicht nur verfassungsrechtlich brüchiges Eis, er
maß auch mit unterschiedlichen Ellen. Auch Gerhard Haderer, der den
Vorteil hatte, nicht für ein "rechtskonservatives" Blatt zu
publizieren wie sein dänischer Kollege, beging mit seinen
Darstellungen des kiffenden Jesus einen "kränkenden Tabubruch". Die
Gekränkten blieben ruhig, und die Nicht-Gekränkten feierten ihn. Auch
der Bundespräsident gratulierte, als Haderer in Athen vom Vorwurf der
Blasphemie freigesprochen wurde.

Diese Anteilnahme war, wenngleich kosten- und risikofrei, schon okay,
aber dass das Oberhaupt im einen Fall Solidarität übt, und im
anderen, wo es um Leib und Leben geht und um die Grundpfeiler der
Demokratie, diese Solidarität versagt, ist irritierend. Die
Beschwichtigungsrhetorik der Regierung unterschied sich nur um
Nuancen. Mutlos neutral auch sie. Mag sein, dass das man das
Staatsräson nennt. In Wahrheit betreibt Europa Selbstverleugnung. Die
Wertegemeinschaft, eben noch so tapfer, hat den Rückzug angetreten,
und weiß es nicht. ****

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