• 06.02.2006, 18:02:03
  • /
  • OTS0194 OTW0194

Der spontane Volkszorn ist gelenkt

"Presse"-Leitartikel von Michael Prüller

Wien (OTS) - Beim Karikaturenstreit geht es weniger um Gefühle als
um Propaganda. Und ob der Westen dabei mitspielt.

In Tolkiens genialem "Herr der Ringe" gibt es eine Szene, in der die
in ländlicher Idylle lebenden kleinen Hobbits in Versuchung geraten,
sich aus dem großen Weltenringen zurückzuziehen und zu Hause zu
verkriechen. Bis sie erkennen, dass es ja auch mit der
Beschaulichkeit ihrer entlegenen Heimat vorbei wäre, wenn die
Falschen gewännen. Eine ähnliche Erfahrung können jetzt wir
Österreicher machen, wenn unsere Botschaften Ziel von
Molotow-Cocktails werden.
Ob der Karikaturen-Streit nun schon der viel beschworene
"Zusammenstoß" oder bloß eine kleine "Rempelei der Zivilisationen"
ist - wir sind mittendrin. Es geht für unsere Regierung genau wie für
jene anderer europäischer Länder jetzt also nicht darum, ob man sich
in diesem Streit engagiert, sondern nur wie.
Und diese Frage hat es in sich. Zunächst einmal stehen hier zwei
Rechte gegeneinander: das Recht auf Respekt vor der eigenen
religiösen Sphäre - wohl verletzt durch die dänischen Karikaturen.
Und das Recht auf freie Meinungsäußerung - gefährdet durch den Druck
der islamischen Gewaltakte und Boykottaktionen. Hier braucht's noch
nicht das große Nachdenken, um zu einer klaren Aussage zu finden:
Westliche Nationen haben ein rechtsstaatliches Instrumentarium,
dessen sich jeder bedienen kann, der sich in seinen Rechten
beschnitten fühlt. Die Linie muss also sein: Protest ist ok, Klage
auch, Gewalt nicht.
Schön und gut. So viel hätte etwa EU-Ratspräsident Wolfgang Schüssel
auch selber gewusst. Hat er wohl auch - immerhin hat er seine
Außenministerin Ähnliches am Wochenende verlautbaren lassen (während
er selbst in bewährter Weise den großen Schweigenden gegeben hat).
Aber es gibt unter dieser Ebene noch eine andere, und dort fällt die
Antwort bei weitem nicht so leicht. Bei den Protesten in den
islamischen Ländern handelt es sich ja beileibe nicht um spontane
Proteste der Massen, die bei der gelegentlichen Durchsicht
skandinavischer Zeitungen auf Provokationen gestoßen wären. Sie sind,
wie sich immer mehr herausstellt, Früchte einer zielgerichteten
intensiven Wühlarbeit fundamentalistischer Kreise, die auf der
Klaviatur islamischer Minderwertigkeitsgefühle und
Anti-Islam-Weltverschwörungen spielen.
Da gibt es Imame, die seit vielen Wochen jedem, der es sehen will
oder nicht, die dänischen Karikaturen zeigen - die sie zwecks
stärkerer Wirkung mit ein paar gezeichneten primitivst
anti-muslimischen Sauereien angereichert haben, die auch im liberalen
Dänemark nirgendwo erschienen sind. Im Fach subversive Propaganda
lernt man solche Techniken im ersten Lehrjahr. Dann sieht man etwa in
Iran unter den - nie sehr zahlreichen - Demonstranten auffällig viele
islamische Milizionäre. Wie eben Diktatoren seit jeher die Kunst
verstehen, dem gerechten, aber bisweilen lahmen, Volkszorn
nachzuhelfen.

Das Ganze ist eine Kraftprobe, ob es gelingt, islamisches Recht - das
Verbot, Gott und den Propheten abzubilden - de facto auch in Europa
durchzusetzen. Einen Versuch, den Europa so nicht hinnehmen kann und
der deswegen wunderbar zur Eskalation taugt. Wobei die Eskalation
gerade von jenen betrieben wird, denen große Teile der islamischen
Welt wirtschaftliche Rückständigkeit, Massenarmut, militärische
Schwäche und kulturelle Bedeutungslosigkeit verdanken - von den
herrschenden Cliquen in Staat und Geistlichkeit. Ihnen ist die
Karikaturen-Farce ein Mittel, um den Menschen zu suggerieren, dass
der böse Westen die Werte des Islam zu vernichten sucht und darum der
eigentliche Urheber aller Nöte des Volkes ist. Modernisierung wird
solcherart zunehmend als Gefahr und Feind erlebt und damit als
Lösungsansatz verunmöglicht.
Je mehr der Westen standhält, desto unmöglicher wird die
Modernisierung der islamischen Gesellschaften. Je mehr er nachgibt,
desto mehr werden arabische Nationalisten und islamische
Fundamentalisten ermuntert, den Druck zu erhöhen.
Aus dieser Zwickmühle gibt es nur einen Ausweg: Sich nicht in
pauschale Zivilisations-Clashes hineintheatern lassen, sondern
Zusammenarbeit mit den gemäßigten, weltoffenen Kräften der
islamischen Welt pflegen, damit aus dem gelenkten Karikaturen-Protest
keine echte Massenbewegung wird. Aber in der Sache muss man
unmissverständlich bleiben. Bilderverbote haben in einem säkularen
Staat nichts verloren, auch nicht De-facto-Verbote, die dadurch
zustande kommen, dass sich keiner mehr traut - und Regierungen das
hinnehmen. Verständnisvolle Härte, das wär's. Ist aber schwer. Als
Ersatz ist Schweigen sehr verführerisch, aber leider nicht die
Lösung.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445
E-Mail: chefvomdienst@diepresse.com

OTS-ORIGINALTEXT UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS | PPR

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel