- 23.12.2005, 17:58:15
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DER STANDARD-KOMMENTAR "1984 hat Konjunktur" von Gerfried Sperl
Langsam bahnt sich jedoch in den USA eine Trendwende an - Ausgabe vom 24./25./26.12.2005
Wien (OTS) - George W. Bush sagte dieser Tage, die von ihm
gebilligten Abhörmaßnahmen innerhalb der USA seien zum Schutz der
amerikanischen Bürger angeordnet worden. Weniger Bürgerrechte werden
als Stärkung der Sicherheit ausgegeben: Das ist der autoritäre Geist,
der George Orwells "1984" durchweht. In letzter Konsequenz heißt das:
Unterdrückung ist Befreiung.
Glücklicherweise sind wir noch nicht so weit. Aber der
durchleuchtete und bespitzelte Bürger ist zu Weihnachten 2005 wieder
ein Thema. Nicht nur das. Erstmals seit vielen Jahren muss die 1960
gegründete Menschenrechtsorganisation Amnesty International fürchten,
dass auch in westlichen Demokratien das Folterverbot unterhöhlt
oder/und umgangen wird. Gleichzeitig werden etwas schärfer
auftretende Gegner der Todesstrafe wieder als "Extremisten"
eingestuft, so als wäre diese Variante der Justiz nicht selbst schon
extrem genug.
Blenden wir zurück. Während der Regierungszeit des Republikaners
Richard Nixon arbeiteten CIA und nationale Sicherheitsdienste vor
allem in Südamerika eng zusammen: gegen die Ausbreitung des
Castro-Kommunismus, aber auch (und mit diesem Argument) bei der
Errichtung von Geheimgefängnissen mit brutalen Foltermethoden.
Spätere Enthüllungen haben dazu geführt, dass der diplomatisch höchst
erfolgreiche Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger in
mehreren Staaten nicht mehr landen kann, weil er sonst eine
Verhaftung riskieren würde.
Unter Ronald Reagan setzte sich diese Politik fort. Gestoppt wurde
sie unter dem von Experten und Kommentatoren damals als schwach
eingestuften Demokraten Jimmy Carter. Die "Ideale" der Vereinigten
Staaten kamen wieder zum Zug: liberale Demokratie, Menschenrechte,
Gewaltenteilung. George Bush senior änderte daran wenig, Bill Clinton
setzte die Linie Carters fort - mit dem internationalen Makel, dass
er die Todesstrafe nie abgelehnt hat.
Dann kam der 11. September 2001: Dem Flugzeug-Terror in New York und
Washington folgte der Umschwung. Das Vakuum der 90er-Jahre in Sachen
Freund-Feind-Schema war beendet. Der Islamismus hatte sich selbst an
die Stelle des Kommunismus gesetzt. So wie in den 70er- und
80er-Jahren die europäischen und südamerikanischen Diktaturen
profitiert jetzt Putins Russland vom "Kampf gegen den Terror". Weil
der Zweck die Mittel heiligt, kann man Bürgerrechte suspendieren, das
Folterverbot relativieren und die Souveränität der Nationalstaaten
ignorieren. Dass die westliche Welt dabei Gefahr läuft, sich auf das
Niveau ihrer Gegner zwingen zu lassen, wird zu wenig diskutiert.
Selbst der neue christdemokratische deutsche Innenminister Schäuble
(seit einem Attentat im Rollstuhl) kann sich Ausnahmen vom
Folterverbot vorstellen: Kein Grund zur Hoffnung also, die
problematische Linie des sozialdemokratischen Vorgängers Schily
könnte sich ändern. Da passt es schon fast in die neuen Verhältnisse,
dass in Österreich die Kritik an der Todesstrafenpolitik Arnold
Schwarzeneggers mit Hinweis auf "wirtschaftliche und touristische
Aspekte" als "schädlich" betrachtet wird. Halten wir also die
Schnauze, wirbt "Arnie" doch für weitere Zuwachsraten im
Winterreiseverkehr. Frohe Weihnachten.
Eine Änderung dieser Trends kann erneut nur aus den USA selbst
kommen - umso mehr als unsere "Atlantiker" auch wendefreudig sind.
Müssen wir also noch drei Jahre warten, bis (vielleicht) eine
demokratische Präsidentin andere Töne anschlägt, tief greifend
verschiedene Akzente setzt? Eine Hoffnung gibt es: Der US-Kongress
ist aufgewacht und setzt dem Präsidenten und seinem Clan engere
Grenzen.
Wir in Europa müssen diese Tendenzen einer Änderung unterstützen.
Indem Verletzungen der Menschenrechte angeklagt und publiziert
werden. Indem wir Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht
nur verteidigen, sondern forcieren. Und in der eigenen Politik den
Kniefall nicht unterstützen.
Rückfragehinweis:
Der Standard
Tel.: (01) 531 70/445
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