- 05.07.2005, 15:18:09
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SPÖ stellt sich ihrer Vergangenheit: Studie über "braune Flecken" in der SPÖ präsentiert
Gusenbauer: Keine besonders angenehmen Sachverhalte, aber "es war notwendig, diese Arbeit zu tun"
Wien (SK) Im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung präsentierte die
SPÖ am Dienstag im Renner-Institut eine Studie über die "braunen
Flecken" in der SPÖ. Sechs Wissenschafter haben im Auftrag von
SPÖ-Vorsitzendem Alfred Gusenbauer fünf Jahre lang an der
Untersuchung gearbeitet. Eines der Ergebnisse: Unter den
SP-Abgeordneten im Nationalrat, im Bundesrat sowie in den Landtagen
waren nach 1945 zehn Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder. Bei der ÖVP
waren es sogar zwölf Prozent. Gusenbauer sagte zur Eröffnung der
Tagung: "Es sind für mich, für meine Partei und auch für die
Geschichte Österreichs keine besonders angenehmen Sachverhalte, die
in dieser Studie thematisiert werden - aber es war notwendig, diese
Arbeit zu tun." ****
Gusenbauer würdigte eingangs die beachtliche politische und
wirtschaftliche Stabilisierung nach 1945. Die nationalen
Anstrengungen, die Leistung der einfachen Menschen, aber auch die
Leistung der PolitikerInnen der ersten Stunde "sind und bleiben
unbestritten". Gleichzeitig gelte es aber, "den Blick auf die
schmerzhaften Seiten der Geschichte zu richten, um ein vollständiges
Bild der Nachkriegsepoche zeichnen zu können". Verklärung sei dabei
ebenso untauglich wie Aburteilung, Aufrechnung oder Denunziation.
"Geschichte ist nie ohne Widersprüche - und wir müssen uns diesen
Widersprüchen stellen", so Gusenbauer, "um auf dieser Basis guten
Gewissens auch die positiven Leistungen feiern zu können".
Auch die anderen politischen Kräfte müssen sich ihrer
Vergangenheit stellen
Mit der Präsentation der Studie unter dem Titel "Entnazifizierung
zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg.
Das Beispiel der SPÖ" dürfe kein Schlussstrich gezogen werden, so der
SPÖ-Vorsitzende. Es sei noch viel zu tun, und zwar nicht nur im
Bereich der SPÖ, sondern auch "für alle gesellschaftlichen und
politischen Kräfte in Österreich, die sich bis heute dieser Aufgabe
nicht unterzogen haben".
Gusenbauer hatte bereits im Jahr 2000 alle gesellschaftlichen und
politischen Kräfte des Landes aufgefordert, ihre Rolle im Umgang mit
der NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Die SPÖ sei mit gutem Beispiel
vorangegangen und habe parteiunabhängige und wissenschaftlich
ausgewiesene Einrichtungen, nämlich das Institut für Zeitgeschichte
der Universität Wien und das Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes beauftragt, diese Untersuchung für den
Bereich der Sozialdemokratie vorzunehmen. Die SPÖ habe dafür ihre
Archive geöffnet. Aus fünfjähriger Arbeit, so Gusenbauer weiter,
seien schließlich drei Studien entstanden.
1. Eine Arbeit im Rahmen der Untersuchungen der Österreichischen
Historikerkommission zu "Vermögensentzug und Restitution im Bereich
der SDAP/SPÖ". Diese wurde 2002 fertig gestellt und öffentlich
präsentiert. Sie wird in ergänzter Form in einigen Monaten als Buch
erscheinen.
2. Eine Studie zur spezifischen Situation des BSA, die im Jänner 2005
vorgestellt wurde.
3. Die heute vorgestellte Studie über den generellen Umgang der
Nachkriegs-SPÖ mit ehemaligen Nationalsozialisten.
Auch heute, nach Abschluss der Studie, gelte, was er, Gusenbauer, im
Jahr 2000 gesagt habe: "Man muss den Mut haben einzugestehen, dass
auch die SPÖ in der Nachkriegszeit bei einzelnen Entscheidungen oder
Entwicklungen Fehler begangen hat, die jedenfalls aus heutiger Sicht
nicht zu beschönigen, sondern kritisch zu hinterfragen bzw. zu
kritisieren sind."
In diesem Zusammenhang erinnerte Gusenbauer an frühere
SPÖ-Vorsitzende, die bereits wesentliche Schritte in diese Richtung
gesetzt haben. Franz Vranitzky hatte mit der unmissverständlichen
Zurückweisung der Opferdoktrin und dem klaren Bekenntnis, dass auch
Österreicher Kriegsverbrechen begangen hatten und in den Holocaust
involviert waren, den ersten Schritt gesetzt. Viktor Klima hatte 1999
die Historikerkommission eingesetzt, die den Naziraub, die
Restitutionen und Entschädigungen sowie die Zwangs- und Sklavenarbeit
erforschte.
Entschuldigung bei den Opfern, wenn SPÖ deren Leiden nicht
ausreichend gewürdigt hat
Heute gehe es eben darum, die politische Verantwortung der SPÖ für
die in manchen Fällen ungenügende Auseinandersetzung mit der
NS-Vergangenheit zu thematisieren. Aus der Distanz würden uns heute
viele Ansichten, Aussagen und Maßnahmen befremden, sagte Gusenbauer.
Dies gelte vor allem in Hinblick auf die NS-Opfer. Ihnen sei man es
schließlich schuldig, die dunklen Kapitel der Vergangenheit zu
untersuchen und eine klare Positionierung zum NS-Regime einzunehmen.
Gusenbauer entschuldigte sich namens der SPÖ ausdrücklich bei den
Opfern des Nationalsozialismus und ihren Angehöreigen, "wenn die
Partei in der Vergangenheit durch politische Maßnahmen deren Leiden
nicht oder nicht ausreichend gewürdigt hat".
Die Diskussion über das Jahr 1945 stellt sich für Gusenbauer als "ein
schwieriges Ringen" dar - zwischen dem "Zur-Rechenschaft-Ziehen der
Täter und der Re-Integration all jener, deren Mitwirkung am
Terror-Regime für verzeihlich erachtet wird". Diese komplexe Frage
zeige sich am Kriterium der NSDAP-Mitgliedschaft. Die Umstände, unter
denen jemand Mitglied wurde und die tatsächliche Praxis hätten sich
oft meilenweit unterschieden. Umgekehrt hätte auch
Nicht-Mitgliedschaft nicht bedeutet, dass man mit dem
Nationalsozialismus nichts zu tun hatte. Damit wolle er nichts
entschuldigen und niemanden exkulpieren, aber: "Ich warne vor
vorschnellen Urteilen, einfacher Schwarz-Weiß-Malerei."
Gusenbauer geht davon aus, dass man aus dem genauen Studium der
Entnazifizierung Lehren für andere junge Demokratien ziehen kann.
Dies sei eine besonders lohnende Aufgabe für die Wissenschaft, regte
Gusenbauer an, die Forschungsarbeit fortzusetzen.
Schließlich bedankte sich der SPÖ-Vorsitzende ausdrücklich bei den
Autorinnen und Autoren der Studie Maria Mesner, Matthew Berg, Sonja
Niederacher, Doris Sottopietra, Theodor Venus und Maria Wirth für die
"differenzierte und nüchterne Darstellung" und das Herausarbeiten der
Widersprüche. (Schluss) se
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