• 15.04.2005, 12:24:24
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Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein - Zweiter Weltkrieg

Abschluss der Forschungsarbeiten

Vaduz (OTS) - Die Unabhängige Historikerkommission Liechtenstein
Zweiter Weltkrieg hat nach knapp vierjähriger Tätigkeit ihren
Schlussbericht zu den Forschungsarbeiten über die Rolle
Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg vorgelegt. Ergänzt wird der
Schlussbericht mit einzelnen Studien zu Sonderthemen. Die
Liechtensteinische Regierung hatte am 22. Mai 2001 aufgrund diverser
Anregungen und in der Öffentlichkeit aufgeworfenen Fragen eine
Unabhängige Historikerkommission bestellt und diese beauftragt,
Fragen zur Rolle Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg vertieft
abzuklären. Der Unabhängigen Historikerkommission unter dem Vorsitz
von Peter Geiger gehörten Historiker aus Liechtenstein, Israel,
Österreich und der Schweiz an. Ihr standen für die Forschungsarbeiten
finanzielle Mittel von rund 3.5 Millionen Franken zur Verfügung.

"Noch nie wurde ein Kapitel in der Geschichte des Fürstentums
Liechtenstein derart akribisch, ausführlich und schonungslos
durchleuchtet wie die Zeit des Zweiten Weltkrieges in der
vorliegenden Studie," erklärte der liechtensteinische Aussenminister,
Ernst Walch, anlässlich der Pressekonferenz am 13. April 2005 in
Vaduz, in der Regierung und Unabhängige Historikerkommission den
Schlussbericht sowie die Schlussfolgerungen der Öffentlichkeit
präsentierten. "Sowohl der Staat als auch die Wirtschaft hatten ein
besonderes Interesse an einer lückenlosen Aufarbeitung dieses
Zeitabschnittes. Die Aufarbeitung der Vergangenheit stärkt ein Land
für die Bewältigung zukünftiger Probleme", so Walch weiter. Eine rund
40-seitige Zusammenfassung des Schlussberichtes sowie die
Schlussfolgerungen der Regierung sind ab heute verfügbar und über das
Internet-Portal www.liechtenstein.li digital abrufbar. Der gesamte,
mehrere hundert Seiten umfassende Schlussbericht und die
Einzelstudien der Unabhängigen Historikerkommission werden im Sommer
2005 in Buchform publiziert.

Peter Geiger, Präsident der Unabhängigen Historikerkommission,
stellte mit Befriedigung fest, dass der freie und ungehinderte Zugang
zu allen Archiven und Dokumenten eine Aufarbeitung in der
vorliegenden Tiefe und Ausführlichkeit ermöglichte. "Uns standen alle
Archive offen. Wir konnten ungestört und völlig unbeeinflusst
arbeiten", bestätigte der Historiker.

Wichtigste Ergebnisse der Forschungsarbeiten

Die beiden in der NS-Zeit bestehenden liechtensteinischen Banken,
die Liechtensteinische Landesbank (LLB) und die Bank in Liechtenstein
(BIL), dienten dem Deutschen Reich und NS-Grössen nicht als
Kapitalhort oder Devisendrehscheibe. Sie betrieben keinen Goldhandel
mit dem Reich. Sie unterhielten in begrenztem Rahmen
Geschäftsbeziehungen mit Partnern im Reichsgebiet. Sie verwalteten
Vermögen von NS-Verfolgten.

Ein einziges nachrichtenloses Konto, das einem NS-Verfolgten
gehörte, der 1938 nach New York geflohen und 1949 in Jerusalem
gestorben war, wurde bei der Bank in Liechtenstein gefunden. Die Bank
hat mittlerweile der ausfindig gemachten Erbin einen auf heute
hochgerechneten Betrag des Kontos ausbezahlt. Bei sechs weiteren seit
1945 nachrichtenlosen Konten gibt es keine Hinweise auf
NS-Verfolgung. Die Banken handelten korrekt.

Liechtensteinische Sitz- und Holdinggesellschaften hatten ihre
Vermögenswerte in der Regel bei Schweizer Banken liegen. Ab 1938
wurden viele Gesellschaften gelöscht. Die Besitzer, oft Juden oder
andere NS-Verfolgte, mussten ihr Vermögen im Deutschen Reich anmelden
und abliefern. Es gibt Hinweise, dass in den Kriegsjahren gegründete
Gesellschaften, welche dem Handel mit deutschen Partnern dienten, zur
Verdeckung der Besitzverhältnisse, zur Finanzierung problematischer
Geschäfte, zur Vermeidung alliierter Listensetzung oder zur
Verschiebung von NS-Kapital dienen konnten; lückenlose Belege dafür
gibt es nicht. Zahlreiche Gesellschaftsgründungen ab 1940 dienten der
Umgehung der schweizerischen Kriegsgewinnsteuer. 1945 und danach
wurde mit deutschen Vermögenswerten in Liechtenstein gleich wie in
der Schweiz verfahren, nämlich Sperrung und Unterstellung unter das
Washingtoner Abkommen. Die Schweizerische Verrechnungsstelle fand
keine NS-Vermögensverschiebungen. Es gab in Liechtenstein keine
Restitutionsforderungen oder -prozesse.

Zwangsweiser Vermögensentzug jüdischen Besitzes, "Arisierung",
sowie Zwangsarbeit fanden in Liechtenstein oder durch
liechtensteinische Unternehmen nicht statt. Hingegen kaufte das
Fürstenhaus ab 1938 im angeschlossenen Österreich und in der deutsch
besetzten Tschechoslowakei einzelne Betriebe oder Beteiligungen aus
jüdischem Besitz, so zur Arrondierung der im Besitz des Fürstenhauses
stehenden Elbemühl-Papierfabrik. Auch wurden auf drei fürstlichen
Landwirtschaftsbetrieben in Österreich vom Juli 1944 bis zum
Kriegsende jüdische KZ-Häftlinge aus Ungarn, welche die SS aus dem
Lager Strasshof bei Wien ausmietete, als Zwangsarbeitskräfte
beschäftigt.

In liechtensteinischen Sammlungen sind keine geraubten Kunstwerte
festgestellt worden. Es gibt auch keine Hinweise, dass über
Liechtenstein Raubkunst verschoben wurde. Einzelne jüdische
Flüchtlinge und Neubürger konnten Kunstwerte retten. Die seinerzeit
in Wien lagernden Fürstlichen Sammlungen kauften in der Zeit von 1938
bis zum Kriegsende rund 270 Kunstobjekte, fast durchwegs
Einrichtungsgegenstände. Darunter findet sich eine Reihe von Objekten
mit problematischer Provenienz, da sie bei Institutionen oder
Händlern erworben wurden, welche auch mit Raubgut handelten. Ein
wertvoller Schreibtisch stammt nachweislich aus "arisiertem Besitz",
doch hatte der Händler dem Fürsten eine falsche, unproblematische
Herkunft angegeben.

Die Flüchtlingspolitik Liechtensteins wurde weitgehend durch jene
der Schweiz bestimmt und mit dieser koordiniert. Zwischen 1933 und
1945 (die Flüchtlingswelle in den letzten Kriegstagen nicht
eingerechnet) fanden etwa 400 Flüchtlinge, die grosse Mehrzahl Juden,
Zuflucht in Liechtenstein, nämlich rund 250 durch kürzeren oder
längeren Aufenthalt und etwa 150 durch behördliche Weiterleitung in
die Schweiz. Zusätzlich erhielten zwischen 1933 und 1945 insgesamt
144 jüdische Personen das liechtensteinische Bürgerrecht, gegen hohe
Gebühren. Insbesondere 1938/39 wurde aber auch eine unbekannte Anzahl
von Flüchtlingen an der Grenze zurückgewiesen, teils auch aus
Liechtenstein über die Grenze zurückgeschafft. In den letzten Wochen
und Tagen des Krieges im April und Mai 1945 konnten rund 8’000
Flüchtende durch Liechtenstein in die Schweiz gelangen. Am 3. Mai
1945 wurde eine übertretende russische Wehrmachttruppe mit knapp 500
Personen interniert.

Drei liechtensteinische Industriebetriebe, alle im Spätherbst 1941
gegründet, lieferten der deutschen Seite Rüstungsgüter oder
kriegswichtige Güter: Die Press- und Stanzwerke AG produzierte 20
mm-Hülsen für die Oerlikon Bührle-Flabkanone, die Maschinenbau Hilti
oHG lieferte Teile für Motoren und Fahrzeuge, die
Präzisions-Apparatebau AG stellte Messinstrumente her.

Liechtenstein - damals ganz anders als heute

In seiner Präsentation wies Geiger auf die besondere Situation
Liechtensteins zur damaligen Zeit hin. "Die Fokussierungen auf
Liechtenstein damals und heute sind sehr unterschiedlich. Aktuelle
Wahrnehmungen zu Liechtenstein - als allgemein reiches Land und als
Finanzplatz gesehen - werden oft zu einfach auf die Zeit von 1930 bis
1945 zurückprojiziert. Das Liechtenstein der Dreissiger- und
Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts ist nicht mit dem heutigen
Liechtenstein vergleichbar. Ausserdem spielte der spezielle Kontext,
in welchem Liechtenstein an der Seite der Schweiz, mit der es auf das
Engste vernetzt war, und in der Nachbarschaft Österreichs und seit
1938 des Dritten Reiches lebte, eine wesentliche Rolle."

Liechtenstein befand sich als Staat in einer besonderen Position,
indem es zwar souverän, aber nicht unabhängig, sondern teilabhängig
von der Schweiz war. Liechtenstein war bezüglich der
Aussenwirtschaftspolitik aufgrund des Zollvertrags vollständig in das
Regime der Schweiz eingebunden. An der liechtensteinischen Grenze zu
Österreich kontrollierten schweizerische Grenzorgane die Grenze.
Liechtenstein lag nach dem "Anschluss" Österreichs an der Grenze des
Dritten Reiches und war ständig bedroht. Auch in Liechtenstein
hielten sich Verfolgte auf und Liechtenstein musste sich dieser
Situation stellen. Ein politischer Faktor lag in der Kleinheit des
Landes, es hatte kein politisches Gewicht. Die Frage musste sich
daher auch danach richten, wie die Bewohner und Bewohnerinnen und wie
die Behörden in dieser besonderen Situation handelten.

Schlussfolgerungen der Regierung

Die Regierung hat die Ergebnisse der Untersuchungen der
Unabhängigen Historikerkommis-sion zur Kenntnis genommen und
anschliessend ihre Schlussfolgerungen daraus gezogen. "Liechtenstein
ist sich seiner Verantwortung für dieses Kapitel in seiner Geschichte
bewusst. Wir blicken aber nicht nur in die Vergangenheit, sondern in
die Zukunft und wollen alles in unserer Macht stehende tun, damit
sich die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg und insbesondere der
Holocaust in keiner Weise wiederholen können. Dazu ist es unablässig,
die Bevölkerung, insbesondere unsere Jugend zu informieren über das,
was geschehen ist und sie gegenüber Rassismus und Antisemitismus zu
sensibilisieren," fasst Regierungschef Otmar Hasler die politische
Wertung der Regierung zusammen. In den Schlussfolgerungen weist die
Regierung daher auch auf die vielfältigen Massnahmen hin, die bereits
in den vergangenen Jahren eingeleitet und getroffen worden sind, um
Rassismus und Antisemitismus wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Regierung
hält es für zielführend in Zukunft mit neuen Massnahmen geeignete
Projekte mit langanhaltender Wirkung zu verfolgen. Die verschiedenen
Projekte sollen vor allem einer fortgesetzten öffentlichen
Bewusstseinsbildung dienen.

Befassung des Landtages

Die Regierung hat die Ergebnisse der Untersuchungen mit grossem
Respekt und im Geiste der gemeinsamen Verantwortung entgegengenommen,
wie sie dies gegenüber dem gesamten Untersuchungsablauf und dem
zugrunde liegenden Anliegen getan hat. Die Regierung hat dem Landtag
(Liechtensteinisches Parlament) die Berichte zugeleitet, damit sich
dieser als Volksvertretung baldmöglichst mit den Ergebnissen der
Untersuchungen befassen kann.

Sämtliche Dokumente sowie detaillierte Informationen zur
Unabhängigen Historikerkommission finden Sie im Internet unter
www.liechtenstein.li .

OTS0153    2005-04-15/12:24

OTS-ORIGINALTEXT UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS | NCH

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