• 30.12.2004, 17:00:00
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"Vorarlberger Nachrichten" Kommentar: "Die Ökonomie des Schreckens" (Von Kurt Horwitz)

Ausgabe vom 31.12.2004

Wien (OTS) - Wir sind diese Woche Zeugen der größten
Naturkatastrophe der Neuzeit geworden. Bis zu hunderttausend Tote,
zigtausend Verletze, Millionen Obdachlose, Schäden in zweistelliger
Milliardenhöhe in elf Ländern - aber Ökonomen, Versicherungen und
Börsen wackeln nicht einmal mit den Ohren.
"Begrenzte Schäden" meldet die "Münchener Rück", die weltgrößte
Rückversicherungsgesellschaft der Welt. Bei ihr sind internationale
Versicherungen ihrerseits gegen Schäden versichert, die sie allein
nicht tragen können. 35 Milliarden Dollar haben die Versicherungen
heuer allein für die Schäden durch die Wirbelstürme in den USA, der
Karibik und Japan berappen müssen - die Tsunami-Katastrophe in
Südasien wird vergleichsweise billig zu Buch schlagen. Sowohl die
Sachwerte als auch die Versicherungshäufigkeit sind in den
betroffenen Gebieten gering, analysiert die Münchener Rück und
schätzt die eigenen Verluste auf bloß 100 Millionen Euro.
Auch die Aktienkurse haben kaum reagiert. In den verwüsteten
Küstenstreifen gibt es kaum Industrie, die Bevölkerung lebt von der
Landwirtschaft und dem Fremdenverkehr. Das zählt für Anleger,
Analysten und Börsenhändler nicht.
Und seien wir ehrlich: Auch unsere Betroffenheit rührt zu einem
Gutteil daher, dass es sich um Urlaubsgebiete handelt, die viele von
uns kennen. Andernfalls würde sich der Schock in Grenzen halten: Als
während des Völkermordes von 1994 in Ruanda innerhalb weniger Wochen
800.000 bis eine Million Tutsis getötet wurden, hat die so genannte
zivilisierte Welt davon kaum Notiz genommen.
Was die Reaktion der Märkte anlangt, kennen wir vergleichbare
Beispiele. Wenn börsennotierte Unternehmen Massenkündigungen
vornehmen, schnellen deren Aktienkurse meist prompt in die Höhe - der
Personalabbau verspricht höhere Gewinne für die Anleger.
Dementsprechend nüchtern stuft die Versicherungsbranche die größten
Risiken für die nähere Zukunft ein. So ziemlich an erster Stelle
steht eine weltweite Grippeepidemie, die auch Industriestaaten mit
hoher Versicherungsdichte erfasst. Ein Blick in die Vergangenheit
macht die Ängste verständlich.
500.000 Menschenleben hat die "spanische Grippe" im Jahr 1918 allein
in den USA gekostet. Weltweit waren es 20 Millionen. Die
amerikanischen Versicherungen mussten ein halbes Prozent des
amerikanischen Bruttonationalprodukts bezahlen - in heutige Kaufkraft
umgerechnet wären das rund 50 Milliarden Dollar.
Man kann derartige Rechnungen und die Reaktion der Börsen auf die
Flutkatastrophe in Südasien als Auswuchs eines herzlosen
Neo-Kapitalismus und als Zeichen eines weit verbreiteten ökonomischen
Zynismus abtun. Man könnte aber auch nachdenklich werden.
Gegen Seebeben und Tsunamis sind wir weitestgehend machtlos. Im
täglichen Leben abseits echter oder vermeintlicher
Katastrophenmeldungen haben wir uns aber längst an die Abkoppelung
trockener Zahlen von Gefühlen, Ängsten und menschlichen Empfindungen
gewöhnt. Ob das der Wirtschaft und der Gesellschaft auf Dauer
wirklich gut tut, ist schwer zu beurteilen, aber eher zu bezweifeln.

OTS0124    2004-12-30/17:00

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