• 06.12.2004, 17:51:46
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Die unterschätzte Frau Merkel und der Männerverein

"Presse"-Leitartikel vom 7.12.2004 von Christian Ultsch

Wien (OTS) - Dem einen ist sie zu kühl und zu protestantisch, dem
anderen zu ostdeutsch. Dem Dritten ist ihre Frisur nicht stürmisch
genug, und dem Vierten will partout nicht gefallen, dass ihre
Mundwinkel meistens in Richtung Mittelpunkt der Erde zeigen. Es wird
viel an Angela Merkel herumgemäkelt. Warum? Ganz einfach: Weil sie
eine Frau ist und aus dem Osten kommt. Und aus diesem Stoff sind nun
einmal nicht die politischen Fantasien gestrickt, die westdeutsche
Männervereine in Ekstase versetzen.
Dennoch wird Merkel die Union im Herbst 2006 als Kanzlerkandidatin in
die Wahlschlacht gegen die rot-grüne Regierung führen. Daran dürfte
nach dem Düsseldorfer CDU-Parteitag kein ernsthafter Zweifel
bestehen, auch trotz des Umstands, dass Merkel bei ihrer Wiederwahl
nur noch 88,4 und nicht mehr 93,7 Prozent erreichte. Die Delegierten
bedachten Merkels Auftritt nicht nur deshalb acht Minuten lang
lautstark mit Applaus, um ihrer Erleichterung darüber Ausdruck zu
verleihen, dass die rekordverdächtige Rede ihrer Vorsitzenden nach
über zwei Stunden endlich vorbei war. Das orgiastische Klatschritual
hatte vor allem den Zweck, Merkel symbolisch zur Kanzlerkandidatin zu
küren.
Weshalb die bayerische CSU Merkel auch jetzt nicht so schnell auf den
Schild heben wird, hat taktische Gründe: Die Schwesterpartei will
sich ihre Zustimmung so teuer wie möglich abkaufen lassen und, wie
schon beim Kompromiss im Streit um die Pläne zur Gesundheitsreform,
weitere inhaltliche Zugeständnisse herauszuholen. Seinen Traum aber,
ein zweites Mal gegen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder anzutreten,
kann Bayerns ehrgeiziger Landesmanager Edmund Stoiber begraben.
Die CDU wird ein Da capo unter keinen Umständen zulassen. Das gab's
nur einmal, in der Phase der Schwächung nach der Spendenaffäre um
Kohl, das kommt nicht wieder. Sollte Merkel wider Erwarten auf der
Zielgeraden doch noch stolpern, wird ein anderer aus ihren Reihen in
den Ring steigen, am ehesten wohl der niedersächsische
Ministerpräsident Christian Wulff.
"Attacke auf die anderen, Feuer einstellen auf uns selbst", gab
Merkel nun als Parole aus. Die Union täte gut daran, sich an ihren
Ratschlag zu halten. In den Umfragen liegt sie zwar immer noch klar
vor SPD und Grünen. Doch in den vergangenen Monaten ist den
C-Parteien dank interner Streitereien das Kunststück gelungen, ihren
Vorsprung einzuschmelzen. Warum sich eine Opposition den Luxus
leistet, fast ein Jahr lang über eine Gesundheitsreform zu streiten,
die sie erst nach einem Wahlsieg, also von heute an gerechnet
frühestens in 21 Monaten, umsetzen kann, ist völlig rätselhaft.
Anstatt in der Auseinandersetzung mit Rot-Grün die großen Linien
vorzugeben, verhedderte sich die Union in Details, die bis heute
außer einer Handvoll Experten ohnehin niemand versteht.
Merkel versucht nun aus dieser Episode die Lehren zu ziehen und setzt
verstärkt auf weichere Themen. Nachdem weder die Kopfpauschale noch
der Stufentarif die Massen begeistert haben, soll nun offenbar das
Bekenntnis zu Patriotismus und deutscher Leitkultur weiterhelfen. Ob
freilich eine Debatte, die geradezu einlädt zu chauvinistischen
Ausrutschern, Punkte bringt, sei dahingestellt.
Vor einem Jahr auf dem Leipziger Parteitag hat sich Merkel
angeschickt, der CDU mit radikalen Vorschlägen für einen Wechsel im
Gesundheits- und Steuersystem ein klares neoliberales Profil geben.
Seither ist die Union auf Druck der CSU wieder etwas in die wolkige
Mitte gerückt, was auch damit zu tun hat, dass deutsche Bürger
mittlerweile nur noch erblassen, wenn sie das Wort Reform hören. Umso
erstaunlicher ist, dass Merkel in Düsseldorf keine Abstriche von
ihrem wirtschaftlichem Kurs machte. Diese Frau hat das, was man
Charakter nennt. Deswegen hat sie es zur unangefochtenen Chefin der
CDU gebracht. Und deswegen muss Schröder sie auch als Gegnerin
fürchten.

OTS0218    2004-12-06/17:51

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