• 08.10.2004, 18:02:55
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"Nestbeschmutzer" kontra "latente Faschisten"

Wien (OTS) - Man muss kein Prophet sein, um anzunehmen, dass in
Österreich die Freude über den Literaturnobelpreis für Elfriede
Jelinek nicht ungeteilt ist. Im Gegenteil: Es ist eher
wahrscheinlich, dass in weiten Teilen der Bevölkerung Unverständnis
und Ablehnung dominieren. Das hat einen nachvollziehbaren Grund:
Während das literarische Werk der Preisträgerin der Hochkultur
zuzuzählen ist und also ein Minderheitenprogramm darstellt, waren die
politischen Äußerungen der Autorin während der vergangenen Jahre
fixer Bestandteil des massenmedialen Polit-Unterhaltungsprogramms.
Elfriede Jelinek gehört, so ist es in die Wahrnehmungsmuster der
"Kronen Zeitung"-Leser unauslöschlich eingebrannt, zu den besonders
verabscheuenswürdigen Exemplaren der Gattung "Nestbeschmutzer". Das
sind, in den Augen ihrer Gegner, jene "Staatskünstler", die sich im
Zuge der sozialdemokratisch dominierten Kulturpolitik von 1970 bis
2000 von Pasterk, Scholten & Co. dafür bezahlen ließen, das Land und
seine Bewohner wegen deren unbewältigter Nazi-Vergangenheit, wegen
des nach wie vor wütenden Antisemitismus zu geißeln und zugleich jede
Veränderung der politischen Machtverhältnisse prophylaktisch als
potenziellen Rückfall in die faschistische Barbarei geißelten. Als es
dann mit der ÖVP-FPÖ-Regierungsbildung des Jahres 2000 tatsächlich zu
diesem Machtwechsel kam, haben denn auch etliche österreichische
Künstlerinnen und Künstler ihren fragwürdigen Beitrag zur maßlosen
europäischen Erregung jener Tage geleistet.
Mit ihrer Entscheidung für Jelinek hat die Nobelpreis-Akademie,
vermutlich unbewusst, der österreichischen Öffentlichkeit eine
Aufgabe neu gestellt, an der diese bisher mit geradezu verbissener
Regelmäßigkeit gescheitert ist: Sie muss einen angemessenen Umgang
mit den politischen Äußerungen von Künstlern finden. Das war während
der Kulturkampf-Atmosphäre in den Anfangsjahren von Schwarz-Blau so
gut wie unmöglich. Inzwischen könnte sich ein neuerlicher Versuch
lohnen. Voraussetzung dafür wäre, dass die Politiker der regierenden
Koalition ihre Neigung unter Kontrolle bringen, alles, was von
künstlerischer Seite an Österreich-Kritik vorgebracht wird, in die
Nähe des Vaterlandsverrates zu rücken. Vielleicht könnte dann auch
der Realitätsbezug der Künstler und Intellektuellen wieder
einigermaßen hergestellt werden.
Unternimmt man diesen Versuch am Beispiel der Elfriede Jelinek, so
manifestiert sich das Problem am Begriff des Klischees: Die
Nobelpreis-Akademie lobt zu Recht die Leidenschaft und Kraft, mit der
es der Jelinek gelingt, in ihren Romanen und Dramen die Macht der
gesellschaftlichen Klischees zu enthüllen. Es ist - für den Bereich
der Prosa muss man übrigens sagen: es war - tatsächlich
beeindruckend, zu sehen, wie sie das, was jeder von uns jeden Tag auf
der Straße an Klischeehaftem und Vorurteilsgesteuertem sehen und
hören kann, einem Verdichtungs- und Zuspitzungsprozess unterzieht,
der in der Regel ein lehrreich-schmerzhaftes Ergebnis hervorbringt.
Es ist aber zugleich überraschend und enttäuschend, wie sehr immer
dann, wenn die Jelinek das Reich ihrer Kunst verlässt und sich auf
den politischen Boulevard begibt, auch sie selbst kaum mehr zustande
bringt als Klischees und Vorurteile.

Staatskünstlerische Nestbeschmutzer" gegen "latente Faschisten":
die ewige Wiederkehr des sogenannten politischen Diskurses in
Österreich. Sie könnte durchbrochen werden, wenn politisierende
Künstler mit dem Eintritt in die politische Arena die dortigen
Spielregeln respektieren. Und wenn Politik und Publikum bereit wären,
sich den Zumutungen künstlerischer Zuspitzung gelassen auszusetzen
und ihre erkenntnisfördernde Schmerzlichkeit zu ertragen. Das wird
uns allen nicht gleich den Friedensnobelpreis eintragen, aber
immerhin einen massiven Zugewinn an politischer Kultur.

OTS0244    2004-10-08/18:02

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