• 02.09.2004, 17:56:47
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Der kaukasische Teufelskreis Panzer, Clans und Terroristen

"Presse"-Leitartikel vom 3.9./von Wieland Schneider

Wien (OTS) - Ihr Gott heißt Freiheit, ihr Gesetz ist der Krieg.
Ihr Hass ist grenzenlos wie die Liebe." Es ist eine Mischung aus
Bewunderung und Angst, die aus dieser russischen Beschreibung der
Tschetschenen durchklingt. Doch es sind nicht etwa Moskauer
Zeitungen, die sich nun zu derartigen "Charakterstudien" der
Geiselnehmer von Beslan hinreißen ließen. Es war der russische
Dichter Michail J. Lermontow, der so im 19. Jahrhundert die
tschetschenischen Kämpfer beschrieb, die den russischen Eroberern zu
trotzen versuchten.
Seit mehr als 200 Jahren toben blutige Schlachten um den
Nordkaukasus. Und die Ingredienzien des Konflikts sind bis heute
beinahe dieselben geblieben: Das Vormachtstreben Moskaus in seinem
Hinterhof, der Kampf um Rohstoffe, und kriegerische Clans, die sich
keiner Fremdherrschaft beugen wollen.
Ein Hauptverursacher des heutigen Blutbads ist zweifellos
Russlands Präsident Putin. Als 1999 in Moskau Wohnblocks explodierten
und islamistische Gruppen Dagestan angriffen, hatte er sofort
Diagnose und Therapie parat: Alles Übel kommt aus Tschetschenien und
muss mit Stumpf und Stil ausradiert werden.
Putin gewann mit seinem harten Zuschlagen an Popularität in der
Bevölkerung. Damals noch Premier, nutzte er gewissenlos den brutalen
Feldzug, um neuer Präsident zu werden - mächtiger, als es sein
Vorgänger Boris Jelzin je war.
Von diesem hat Putin den Konflikt auch geerbt. 1991, nach dem
Zerfall der Sowjetunion, musste Moskau die Kaukasusrepubliken
Georgien, Armenien und Aserbaidschan in die Unabhängigkeit entlassen.
Bei Tschetschenien wollte Jelzin das aber nicht mehr akzeptieren. Die
Folge: ein jahrelanger Krieg, der 1996 mit einem Waffenstillstand
endete. Bis Putin erneut Panzer schickte.
Der russische Präsident hat in ein Wespennest gestochen: Je brutaler
das Vorgehen seiner Truppen, desto erbitterter der Widerstand der
Rebellen.
Doch beim Krieg in Tschetschenien geht es nicht nur um den
Unabhängigkeitskampf eines kleinen Volkes gegen eine repressive
Zentralmacht. In der Kaukasusrepublik treiben Banden ihr Unwesen, die
von Drogenschmuggel, Menschenhandel und Entführungen profitieren. An
ihrer Spitze stehen selbsternannte Kriegsherren, die sich mit ihren
kriminellen Aktivitäten inmitten des Elends schamlos bereichern.
Friede und Sicherheit in Tschetschenien wären nicht gut für ihre
schmutzigen Geschäfte. Deshalb fachen sie den Untergrundkrieg immer
wieder neu an.
Auch der Kreml hat sich mit dubiosen Organisationen verbündet.
Putin setzt auf den Kadyrow-Clan, der die Bevölkerung mit einer
Privatarmee terrorisiert.
Tschetscheniens Gift-Cocktail aus Clanwesen, Banditentum und
kompromisslosem Partisanenkrieg ist in den vergangenen Jahren um eine
neue - tödliche - Zutat reicher geworden: den islamistischen Terror.
Extremisten, die Osama bin Ladens al-Qaida nahe stehen, sind nach
Tschetschenien geströmt, um den dortigen Muslimen beizustehen. Sie
wollen im Kaukasus einen islamischen "Gottesstaat" errichten. Die
durch Krieg und russischen Staatsterror traumatisierte Jugend
Tschetscheniens erwies sich besonders anfällig für die Propaganda der
Islamisten und trägt jetzt den Terror bis nach Moskau.
Russland hat Angst vor einem Dominoeffekt im Nordkaukasus, sollte es
Tschetschenien die Unabhängigkeit gewähren. Die Horrorvision der
Kreml-Strategen: ein weiterer Zerfall des russischen Staatsgebietes,
der zu einem Gürtel unabhängiger, radikal-islamischer Länder an der
Südflanke des Riesenreiches führt. Moskau könnte dann seinen Zugang
zu den Bodenschätzen des Kaukasus verlieren. Gerade jetzt, da auch
die USA nach der strategisch so wichtigen Region greifen, ist ein
Rückzug für den Kreml undenkbar. Ein Ende des Blutbads ist damit
nicht abzusehen.
Die Leidtragenden sind - wie so oft - die einfachen Zivilsten: Die
Kinder von Grosny genauso wie die Schulkinder in Beslan, die in der
Hand rücksichtsloser Mörder Todesangst ausstehen müssen.

OTS0216    2004-09-02/17:56

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