• 19.07.2004, 21:15:01
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"Kleine Zeitung" Kommentar: "Ein soziales Jahr für alle Bürger: Warum eigentlich nicht?" (Von Stefan Winkler)

Ausgabe vom 20.07.2004

Graz (OTS) - Der Vorstoß der ÖVP geht über den üblichen Populismus
hinaus.

Das politische Gerangel um die Zukunft des Zivildienstes ist der
beste Beweis dafür, welch paradoxe Pointen die Geschichte bereit
hält: Ausgerechnet jene Institution, die vor 30 Jahren als Ersatz für
Wehrdienstverweigerer geschaffen wurde, ist zum Hauptargument für den
Fortbestand der Wehrpflicht geworden.

Fällt diese weg, worauf langfristig vieles darunter der Umbau des
Bundesheeres in eine kleinere und professionelle Interventionstruppe
hindeutet, wäre auch dem Zivildienst jede Existenzgrundlage
entzogen und der Staat stünde in fast allen sozialen Bereichen vor
unlösbaren Problemen: Krankenhäuser, Pflegeheime, ambulante Dienste
sie alle sind auf billige Arbeitskräfte angewiesen. Woher sollen sich
diese künftig rekrutieren?

Der Vorstoß von ÖVP-Generalsekretär Reinhold Lopatka, ein §Sozialjahr
für alle§ einzuführen, ist eine mögliche Antwort darauf. Er verdient
schon allein deshalb nähere Beachtung, weil er die Frage nach
Solidarität und Verantwortung in einer Gesellschaft aufwirft und die
Grundsatzdebatte darüber eröffnet, inwieweit der demokratische Staat
von seinen Bürgern auch Pflichten und ein paar Monate Dienst für die
Gemeinschaft abverlangen darf.
Richtig ist, dass kein Gemeinwesen auf die Dauer als
Selbstbedienungsladen zu funktionieren vermag. In einer auf ewige
Jugend setzenden Spaßgesellschaft kann es nicht schaden, eine Zeit
lang Rollstühle zu schieben oder pflegebedürftige Menschen zu
versorgen. Von der charakterbildenden Erfahrung des Helfens und
Gebrauchtwerdens würde unsere Gesellschaft in Wirklichkeit also nur
profitieren.

Damit ist aber noch nicht die eigentliche Frage beantwortet, die
sich bei allen volkspädagogischen Gesten aufdrängt: Lässt sich
Gemeinsinn verordnen?

Abgesehen von der verfassungsrechtlichen Problematik, die sich aus so
einer Zwangsverpflichtung ergäbe, wohl kaum.Das entschuldigt jedoch
nicht die Zurückhaltung, mit der die Opposition den Vorstoß
quittiert. Sie sagt mehr über die weltanschaulichen Differenzen aus,
die in der Konzeption vom Staat bestehen, als über den
Diskussionsgegenstand an sich: Der Verdacht liegt nahe, dass vielen
die Ansprüche an den Staat ideologisch noch immer näher liegen als
die Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen.

Dass ausgerechnet SPÖ und Grüne, die sich so gerne als Sprachrohr
der Zivilgesellschaft in Szene setzen, mit dem populistischen Slogan
"Sechs Monate Zivil
dienst sind genug", nun dessen Schwächung betreiben, ist in der
laufenden Debatte nur ein ungelöster Widerspruch mehr.

OTS0160    2004-07-19/21:15

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