• 02.05.2004, 18:36:46
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"Kleine Zeitung" Kommentar: "Die EU ist größer geworden, aber nicht unbedingt mächtiger" (Von Michael Jungwirth)

Ausgabe vom 3.5.2004

Graz (OTS) - Eines ist sicher: Die Gemeinschaft geht turbulenten
Zeiten entgegen.

Hunderte Male wurde an diesem Wochenende im In- und
Ausland die historische Bedeutung der Osterweiterung beschworen, und
das ist auch richtig so. Europas Regierungen haben sich zu diesem
Schritt vor allem von politischen Motiven leiten lassen, die
Wirtschaft spielt bei dem Projekt die zweite Geige.

Es wurde nicht nur die Teilung Europas überwunden. Die gängige
Fixierung auf den Eisernen Vorhang wird dem Ereignis nur zum Teil
gerecht. Tiefgreifender erscheint die Überwindung des Krieges als
Mittel zur Lösung bilateraler Streitigkeit im Herzen Europas. Um
Kriege vom Zaun zu brechen, bedurfte es nicht nur Ungeheuer wie
Hitler und Stalin.

Der Erste Weltkrieg mit seinem millionenfachen Tod entstand aus
einer sommerlichen Laune heraus. Möglich wurde dies, weil die
Europapolitik damals von Vormachtstreben, Rivalitätsdenken und
Großmachtgehabe bestimmt war. Dieses unselige Politikverständnis
sollte im Herzen des Kontinents wohl endgültig der Vergangenheit
angehören. Dass die EU solche Anwandlungen innerhalb ihrer heute 25-
köpfigen Familie zwar nicht neutralisiert, aber im Zaum hält, ist
die eigentliche Existenzberechtigung der Union.

Woraus aber nicht der Schluss zulässig ist, dass in Europa jetzt das
goldene Zeitalter anbricht. Von der langen Liste der Geißeln der
Menschheit konnte in dieser Ecke der Welt zumindest eine gestrichen
werden. Noch dazu ist ausgerechnet die EU aufgerufen, die lange
Liste (Terror, Arbeitslosigkeit, Elend in der Dritten Welt) Punkt
für Punkt abzuarbeiten. Und das verheißt nichts Gutes.

Denn die EU der 25 geht mit Sicherheit turbulenten Zeiten entgegen.
Sie wird noch unregierbarer, zersplitterter, heterogener,
orientierungsloser, als sie es jetzt schon aus. Bei den Osteuropäern
wird sehr bald Ernüchterung einkehren, die den Populisten neuen
Zulauf bringt. Außenpolitisch wird sich die Kluft zwischen
"Atlantikern" und Europäern wohl eher vertiefen.

Auch die neue EU-Verfassung wird keine Wunder vollbringen, denn den
es fehlt der Wille zum politischen Kraftakt. Den meisten Regierungen
steht innenpolitisch das Wasser bis zum Hals. Um keine neue Front
aufzumachen, verfolgt man lieber eine Politik des kleinsten
gemeinsamen Nenners. Die EU steht an einem Scheideweg: Sie ist
größer geworden, aber deshalb nicht unbedingt mächtiger. Der
Champagner-Laune folgt der Katzenjammer. Will die EU als Akteur
nicht an Einfluss verlieren, muss sie sich der schmerzhaften
Realität stellen. ****

OTS0036    2004-05-02/18:36

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