• 17.12.2003, 16:10:05
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DER STANDARD-Interview mit Michael Sommer von Alexandra Föderl-Schmid

Ausgabe vom 18.12.2003

Wien (OTS) - "Hier greift Rechtlosigkeit um sich"

Regierung und Opposition einigten sich auf Reformen am Arbeitsmarkt
in Deutschland. Über
die Auswirkungen sprach Alexandra Föderl-Schmid mit dem Chef des
Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer.

Standard: Wie bewerten Sie das Vermittlungsergebnis?

Sommer: Die ganze Inszenierung hatte die Botschaft: Hier kommt ein
Weihnachtsgeschenk. Wenn man sich dies genauer anschaut, dann
entpuppt sich das als schlimme Morgengabe, unter der wir lange leiden
müssen. Wenn die Menschen ab 2. Jänner zehn Euro Eintrittsgeld beim
Arzt zahlen müssen und noch einmal zehn Euro beim Ein^lösen des
Rezepts, werden sie sagen: 20 Euro, das entspräche einer
Nettotariflohnerhöhung. Da wird es ein böses Erwachen geben. Auf der
arbeitsrecht^lichen Seite gibt es sehr, sehr negative Entscheidungen.

Standard: Was ist für Sie an dem Paket das Schlimmste?

Sommer: Eindeutig die Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose.
Das heißt, dass sich ein arbeitsloser Lehrer in der widersinnigen
Situation wiederfinden kann, sich als Klomann verdingen zu müssen.
Nicht dass das ehren^rührig wäre, aber den Menschen sollen Löhne
zugemutet werden, die bis zu dreißig Prozent unter den Tariflöhnen
liegen. Dadurch entsteht ein ungeheurer Druck auf Tariflöhne.

Standard: Fürchten Sie damit ein negatives Signal für die
Tarifverhandlungen?

Sommer: Ja, jede Tarifpartei, jeder Betriebsrat wird dann erpressbar.
Das betrifft dann Verkäufer, Busfahrerinnen, Müllmänner,
Hilfsarbeiterinnen, Reinigungskräfte. Die konkurrieren mit billiger
einzusetzenden Langzeitarbeitslosen. Da wird dann gesagt, der macht’s
für sieben Euro und du willst zehn Euro pro Stunde. Das wird vor
allem in Ostdeutschland zu einer sozialen Katastrophe führen, wo die
Löhne ohnehin schon niedriger als im Westen sind.

Standard: Im Vermittlungsausschuss wurde auf eine gesetzliche
Regelung für Öffnungsklauseln in Tarifverträgen verzichtet. Sie
werden nun von Regierung und Opposition dazu aufgefordert, dies
freiwillig zu tun. Wie soll das funktionieren?

Sommer: In der Protokollerklärung steht: Wir erwarten von den
Tarifparteien, dass sie im nächsten Jahr stärker betriebliche
Öffnungsklauseln vereinbaren. Bei einer gesetzlichen Regelung, das
wusste die SPD, wäre dies an den Lebensnerv von Millionen
Beschäftigten gegangen.

Standard: Was ist, wenn das in einem Jahr nicht passiert?

Sommer: Wir machen Öffnungsklauseln, wenn diese erforderlich sind.
Aber eine generelle Zusage für Öffnungsklauseln, das geht nicht.
Sollten die Arbeitgeber sich an dieser Stelle nicht bewegen, werden
wir diesen Konflikt in einem Jahr wieder haben.

Standard: Künftig gilt der Kündigungsschutz nur noch für Betriebe ab
zehn, nicht mehr ab fünf Mitarbeitern, allerdings nur bei
Neueinstellungen. Wie viele Menschen betrifft dies?

Sommer: Wir gehen davon aus, dass dies in drei bis fünf Jahren die
volle negative Wirkung erreichen wird. Dann wären mehr als fünf
Millionen Menschen in Deutschland ohne Kündigungsschutz. Kein Schutz
vor willkürlicher Kündigung heißt: amerikanisches System, "hire and
fire". Das ist ein starker Einschnitt, da hier Rechtlosigkeit um sich
greift.

Standard: Ist das für Sie nicht schwer erträglich, dass ausgerechnet
eine SPD-geführte Regierung dies einführt?

Sommer: In Deutschland ist manches schwer erträglich. Das fängt an
mit der Massenarbeitslosigkeit und hört auf mit der Sozial- und
Arbeitsmarktpolitik, wie sie von den beiden großen Parteien betrieben
wird.

Standard: Wo sehen Sie den Unterschied zu Österreich?

Sommer: Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Wir haben hier die
Situation, dass das, was die Christdemokraten fordern, teilweise von
den Sozialdemokraten freiwillig gemacht wird - oder erzwungenermaßen,
wie jetzt im Vermittlungsausschuss. Wenn sich die Union, die
Kündigungsschutz in Betrieben erst ab 20 Mitarbeitern wollte,
durchgesetzt hätte, wären noch einmal vier Millionen Menschen
betroffen gewesen. Das kleinere Übel hat sich durchgesetzt. Aber das
verändert den Charakter des Übels nicht.

Standard: Konkret: Was ist aus Ihrer Sicht in Österreich schlimmer?

Sommer: In Österreich können Sie noch immer sagen, da regiert eine
schwarz-blaue Koalition, die durch Rot-Grün ersetzt werden könnte. In
Deutschland regiert Rot-Grün schon und macht eine teils schwarz-gelbe
Politik, was die Sache mit den politischen Alternativen schwieriger
macht.

Standard: Ist das der Grund, warum sich die Gewerkschaften mit
Protesten zuletzt so zurückhaltend verhalten? Viel schärfere Kritik
kommt von Gruppen wie Attac.

Sommer: Wir werden in Zukunft stärker mit außerparlamentarischen
Gruppen zusammenarbeiten. Das wird von den Gewerkschaften in Europa
gemeinsam getragen. Wir bereiten einen großen Aktionstag für ein
soziales Europa am 2. und 3. April vor. Wir wollen dabei auch mit
einer falschen Politik abrechnen. Das werden auf jeden Fall Aktionen
sein, die spürbar sind.

Standard: Ist das nicht zu spät, da die Reformen mit Jahresbeginn
2004 umgesetzt werden?

Sommer: Ich gehe nicht davon aus, dass das die letzten Einschnitte
waren. Wir leben nach wie vor in einer Krisen^situation.

Standard: Ist das dann ein Signal, mehr Einschnitte sind nicht
zumutbar?

Sommer: Das ist ein Signal, hört auf, macht es sozial gerecht. Die
Menschen spüren, dass sich etwas verändern muss. Es kann aber nicht
sein, dass die einen bluten und die anderen abkassieren. Wenn das
nicht gestoppt wird, wird das ein bitteres Erwachen geben. Das könnte
dann den politischen Rattenfängern à la Haider nutzen.

Standard: Warum kam Ihre Warnung bei der SPD nicht an?

Sommer: Letztendlich ging es auch um die Frage des Überlebens dieser
Regierung.

Standard: Was ist an dieser Regierungspolitik noch sozialdemokratisch
oder links?

Sommer: Sehr viele treue Genossinnen und Genossen verstehen diese
Politik nicht mehr. Und ich muss sagen, ich kann diese Menschen
verstehen. Ich täte mich aber sehr schwer, aus der Partei
auszutreten. Aber ich bin schon lange illusionsfrei. Das macht
manches einfacher.

OTS0186    2003-12-17/16:10

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