Ausgabe vom 11. September 2003
Wien (OTS) - Der Stahl, der bis heute vor zwei Jahren die stolzen
Türme des World Trade Centers in New York getragen und nach den
Terror-Angriffen tausende Menschen unter sich begraben hat, soll nun
in einem neuen Schiff der US-Marine verarbeitet werden. Noch liegt er
auf einer Müllhalde.
Wie beziehungsvoll, während allerorts gerätselt wird, ob sich die
Welt in diesen fatalen 90 Minuten des 11. September 2001 für immer
verändert hat. Ein Scharlatan, der glaubt, zwei Jahre danach ein
Urteil fällen zu können.
Gewiss ist nur, dass dieser Tag eine neue Polarisierung bewirkt
hat, wie man sie seit dem Ende das Kalten Krieges überwunden glaubte;
dass die Frontlinien nicht mehr entlang der Ideologie verlaufen und
deshalb für viele verwirrender sind als das alte Schwarz-Weiß-,
Freiheit-Kommunismus-Denken; dass so manche Beobachter des Geschehens
mit der neuen Unordnung der Welt nicht zurecht kommen und nicht mehr
wissen, auf welcher Seite sie stehen _ wie der Irak-Krieg gezeigt
hat; dass sich Vertreter des ewigen Anti-Amerikanismus im Lager
offener Amerika-Feinde wieder finden. In dem Verlangen nach festem
Halt scheint man im globalen Bush-Bashing, auf Deutsch: Alle prügeln
George W.!, Linderung der Verwirrung zu finden.
In der Tat: Der konservative Präsident, der vor dem Schrecken des
sonnigen September-Tages keinen kraftvollen Stempel gefunden hat, den
er seiner Amtszeit aufdrücken hätte können, wurde seither zur
personifizierten Polarisierung. Und profitiert politisch davon. An
seiner Person kann man alle Zukunftsängste vor neuem Terror oder auch
vor einem neuen Weltkrieg festmachen. Oder man kann in ihn den
tatkräftigen Feldherren im Krieg gegen den Terror sehen, der die Welt
davor bewahrt, Ärgeres als die Katastrophe in Manhattan oder
Washington vor zwei Jahren zu sehen. Beides ist eine Frage des
subjektiven Standpunkts und der Einschätzung.
Ganz konkrete Veränderungen sind nicht zu leugnen, wenn auch - wie
die gelassene Reaktion der New Yorker Börse auf den zweiten
9/11-Jahrestag zeigt - die Welt nicht in einer neuen Wirtschaftskrise
versunken ist. Die Amerikaner müssen mit einer Einschränkung ihrer
Bürgerrechte leben, die internationale Gemeinschaft mit dem Ende der
Illusionen über die Kraft der Diplomatie und jene der UNO. Die Iraki
müssen mit Krieg und Besatzung leben, die Menschen in Afghanistan
wieder mit gebrochenen Versprechungen.
Auch wenn sich das tägliche Leben weder der Amerikaner noch der
Europäer verändert hat, so schielen doch viele seither ständig über
ihre Schulter, um einen Feind auszumachen, der sich nicht zeigt und
von dem man nicht weiß, wann er das nächste Mal wo zuschlagen wird.
Und in dieser neuen Unsicherheit und Unordnung ist eine Veränderung
wahrscheinlich am nachhaltigsten und würde am schnellsten eine
Korrektur verlangen: Der Verlust des Vertrauens. Nie zuvor waren bei
militärischen Operationen so rasch die Rechtfertigungen in Zweifel
gezogen worden wie in diesem Terror-Kampf inklusive Irak-Krieg; noch
nie zuvor gab es so schnell mit öffentlich belegbaren Dokumenten
Enthüllungen über Täuschung und Tarnung; noch nie zuvor sind
Regierungen von Washington über London, Kopenhagen und Canberra so
rasch der Propaganda überliefert worden.
Dieser Verlust des Vertrauens in den US-Präsident, aber nicht nur
in ihn, markiert möglicherweise einen historischen Scheideweg;
bedeutender als jenen, den die Welt im Feuerschein der explodierenden
Flugzeuge vor zwei Jahre zu sehen vermeinte. Bush, aber nicht nur er,
muss wieder Vertrauen herstellen - in die Aufrichtigkeit, die Motive,
die Entscheidungen. Wenn sich nämlich anhaltender Argwohn mit Hass,
Polarisierung mit Unverständnis, vermischt und dieses Gemenge nicht
entschärft wird, dann sind explosivere Veränderungen zu erwarten als
jene, die die Welt in den letzten 24 Monaten gesehen hat.
OTS0224 2003-09-10/17:16
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