- 20.09.2002, 17:01:59
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"Tiroler Tageszeitung" - Kommentar: "Deutschland wählt" (Von Claus Reitan)
Ausgabe vom 21. September 2002
Innsbruck (OTS) - Schweden hat schon, Deutschland tut es, und
Österreich ist bald dran: wählen. Der Vergleich der Wahlkämpfe
erspart die Frage nach den Unterschieden, denn es gibt keine mehr.
Deutschland wurde normal.
Die Wahlgänge zeigen eine Refraktionierung der großen Lager,
Mitte-Rechts und Mitte-Links. Der Wähleraustausch findet dort und
nicht über den großen Graben statt. Die Wahlkämpfe sind
personalisiert, es geht um das Kopf-an-Kopf-Rennen der
Kanzlerkandidaten. Programme gelten weniger als die Persönlichkeiten,
und deren Auftritte werden inszeniert wie jene von Popstars. Vieles
wirkt daher flach wie ein Bildschirm, denn dank der selektiven
Amerikanisierung übernehmen Kandidaten den Stil aber nicht den Inhalt
aus den USA. Feindbilder hatten wir genug.
Die Berliner Republik ist zu europäischer Normalität
zurückgekehrt. Endlich ein Wahlkampf frei von Verkrampfungen über die
Vergangenheit und von Mythen, von Radikalisierung und Blockbildung,
frei von Liebesliedern auf Deutschland und herabsetzenden Tiraden auf
den Rest. Deutschlands Einheit mäßigt die Gemüter, selbst wenn die
westlichen Bundesländer die östlichen finanzieren, deren Bewohner
dann trotzdem Hammer und Sichel fallen lassen, um den Ost-Aufbau
gegen West-Wohnung und Stütze zu tauschen.
So verdeckt politische und demokratische Stabilität den Blick auf
den enormen Umbruch in der deutschen Wirtschaft. Zeitgleich mit der
D-Mark hat das Wirtschaftswunder seine Kraft verloren. Der raue Wind
der Rezession treibt Unternehmen an den Rand des Abgrunds. In der
Kluft zwischen hohen Kosten und niedrigen Erlösen verschwinden heuer
40.000 Firmen durch Pleite. Zurück bleiben vier Millionen
Arbeitslose, eine Masse, welche die Weimarer Republik im Unterschied
zur Berliner ins Wanken brachte, woran man sich lieber nicht
erinnert.
Der Wohlstand, so tönt es aus Weisenräten, habe die Deutschen so
behäbig gemacht, dass es ihnen an Energie und Beweglichkeit für
marktwirtschaftliche Initiative fehle. Wie fast jede Wahrheit
verträgt sich auch diese nicht mit einem Wahlkampf. Aber am Tag nach
der Wahl meldet sie sich zurück, wenn die Wirtschaft nicht zahlen
kann, was Wahlkämpfer versprechen. Diesem Thema muss sich jeder
Kandidat stellen, spätestens wenn er Kanzler ist.
Rückfragehinweis:
Tiroler Tageszeitung
Chefredaktion - Tel.: 05 12/53 54, DW 601
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