Ausgabe vom 5.6.2002
WIEN (OTS). Ein Silberstreif am düsteren Horizont zog am Dienstag
über der Stadt Almaty, vormals Alma Ata, im Herzen Zentralasiens
auf: Nach dem tagelangen Exodus amerikanischer Staatsbürger und UN-
Personals aus Pakistan und Indien wegen der wachsenden Kriegsgefahr
fand Pakistans Militärmachthaber Pervez Musharraf beim Asiengipfel
dort in Anwesenheit seines Widersachers aus Indien Worte, die die
Welt hören wollte: "Wir wollen keinen Krieg, wir werden keinen
beginnen."
Wenn nun aber alle Hoffnung schöpfen, dass das unvermeidlich
Scheinende vielleicht abgewendet werden kann; wenn Russland, China,
die USA alles daran setzen wollen, die beiden Kampf-Mächte zu
beruhigen, so erhebt sich dennoch die Frage, ob es beim Kaschmir-
Konflikt nicht schon längst um ganz andere Dinge als die alte
Rivalität der beiden neuen Atommächte geht.
Und zwar um ein Szenario, das man sich in realen Farben gar nicht
auszumalen wagt, das aber von Experten dennoch nicht in den Bereich
des Unvorstellbaren verwiesen wird: Es geht bei dem aktuellen
Konflikt zwischen Pakistan und Indien, so wird in Neu Delhi
unablässig betont, um Terrorismus; jenen Terrorismus gegen Indien,
der angeblich von Pakistan gefördert wird.
Diesen Verdacht so lange zu schüren, bis sich der Krieg der Worte in
einen der Waffen verwandelt, könnte das Werk der Terroristen um
Osama bin Laden sein. Ein Teilerfolg ist schon erreicht: Die
Verlegung von Militäreinheiten Pakistans von der Grenze nach
Afghanistan zur Grenze nach Indien. Das langfristige Ziel dieses
"großen Spiels" wäre der Abzug aller ausländischen Einheiten aus
Afghanistan, sollte sich die Gefahr eines Atomkrieges in der Region
derart verdichten, dass es für die USA und alle anderen westlichen
Staaten, die zur Zeit die Stabilität Afghanistans mit ihren
Schutztruppen aufrecht erhalten, politisch unmöglich wäre, ihre
Angehörigen in der Region zu belassen. Das würde aber dieses
geschundene Land neuerlich ins Chaos stürzen - auch nach der
verzweifelten Suche nach Stabilität mit der Großen Ratsversammlung
ab nächstem Montag - und so neuerlich zum Beuteland für die
Extremisten machen. Pessimisten unter den Experten schließen für
diesen Fall nicht einmal mehr die Rückkehr des Taliban-Regimes aus.
Eine solche Entwicklung aber wäre eine für Washington unerträgliche
Demütigung der USA. Denn die Vertreibung der Taliban, die
Stabilisierung Afghanistans, ist ihr einziger bisher vorzeigbarer
Erfolg im "Krieg gegen den Terror". Diese Einschätzung lässt sich
kurioserweise auch aus den täglichen Warnungen Washingtons vor neuen
großen Terror-Anschlägen ablesen. Denn selbst wenn diese Warnungen
innenpolitisch motiviert sind, so kann doch jede einzelne als
Eingeständnis aufgefasst werden, dass al-Qaida keinesfalls
zerschlagen worden ist. Was, wenn diese Terrororganisation sich
jetzt auf Indien, Kaschmir - und wie der Anschlag auf Franzosen
beweist - auf andere Westmächte in der Region stürzt, um so das Ende
der Anti-Terror-Koalition herbeizubomben ?
Vor diesem Hintergrund macht die Einschätzung des Schriftstellers
Salman Rushdie in der "New York Times" in diesen Tagen Sinn: "Zur
Zeit ist Kaschmir der gefährlichste Ort der Welt". Eben, weil es gar
nicht um die Bergregion geht.
Es wird mehr als einen Asiengipfel benötigen, um die Gefahr, die von
Kaschmir droht, zu bannen. Notwendig ist das, was vor allem in
Washington bisher vernachlässigt wurde: Politische Phantasie,
Zusammenschau, Verknüpfung von Fakten. Wenn aber alle, die USA,
Pakistan, Indien nur auf die eigenen inneren Gegebenheiten Rücksicht
nehmen, sich in einen Konflikt hineintreiben lassen, dann werden die
Terroristen ihr Spiel gewinnen.ENDE
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