Bürgergesellschaft ersetzt demokratische Partizipation durch Opferbereitschaft
Wien (SK) "Kohls Konzept von der Bürgergesellschaft greift auf
vorstaatliche Ressourcen zurück", stellte gestern die Philosophin und
Publizistin Isolde Charim in ihrem Beitrag im Rahmen der
Vortragsreihe "Wende am Ende?" in der SPÖ-Zukunftswerkstätte fest.
"Die Bürgergesellschaft bringt den Bürgern nicht mehr Autonomie", so
Charim, "sondern zwingt sie unter die Autorität gesellschaftlicher
Institutionen, die auf einem völlig willkürlichen Wertekonsens
beruhen und politische Gemeinschaften überhaupt ausklammern". ****
Charim bezweifelt, dass es in den Konzepten von FPÖ und ÖVP zur
"Bürgergesellschaft" viele Berührungspunkte gibt. "Während Kohl in
seinen Büchern den Ausgangspunkt des Grundkonsenses in der berühmten
Lagerstraße in Dachau sieht, machte die FPÖ gerade gegen diesen
Konsens in der Vergangenheit Front." Beide Regierungsparteien würden
sich erst in der Ablehnung der von ihnen so bezeichneten und
beschworenen "Sozialschmarotzer" treffen, die der Sozialstaat
angeblich erzeuge. Diese soziale Erscheinung führten beide laut
Charim auf eine "Sinnkrise, auf eine Krise der Werte" zurück, die
sich in Österreich breit mache. Das Gegenmodell sei ein "neuer Wert",
eine "Bürgersolidarität", deren Schauplatz die sogenannte
Bürgergesellschaft sei, und als deren Träger die Vereine fungieren
sollen.
"Dies alles ist ganz und gar nicht neu", sagte Charim, "die
Bürgergesellschaft greift auf vorstaatliche Ressourcen zurück". In
der Bürgergesellschaft ginge es nicht mehr um demokratische
Partizipation, "sondern darum, dass Menschen mehr tun als ihre
Pflicht, nämlich dass sie Opferbereitschaft zeigen". Charim
schlussfolgert: "Die Gesellschaft soll nach dem Modell des 'Dorfes'
funktionieren."
Das konservative Konzept von der Bürgergesellschaft, führte Charim
aus, würde also einer neoliberalen Offensive bedürfen, die den Staat
beschränken "und mit Sozialschmarotzern aufräumen" würde. In einem
zweiten Schritt sollte "die Bürgergesellschaft dort einspringen, wo
sich der Staat zurückzieht". Diese sollte nach Ansicht der
Konservativen zu einem nicht-staatlichen Gemeinwohl führen.
Charim stellte fest, dass das Bürgergesellschaftskonzept "wie ein
Pastorat funktioniert: die Politiker sollen die Hirten der
Gesellschaft sein. Gestiftet wird das Pastorat über die Familie, die
Kirche, die Freiwillige Feuerwehr, den Tierschutzverein, die
Fußballclubs und viele andere gesellschaftliche Institutionen". Diese
seien jedoch "vollkommen unterschiedliche Assoziationsgruppen" und
die Bürgergesellschaft schließe überdies politische Gemeinschaften,
namentlich Parteien, völlig aus. "Kohl meint, dass alle aufgezählten
Institutionen eine fundamentale Aufgabe hätten, eben jenes spezielle,
konservative Gemeinschaftskonzept, das zur Herstellung eines
spezifischen Subjekttypus führen soll, was in Kohls Satz "Wer das
Klarinetten spielen lernt, wird nicht drogensüchtig" so anschaulich
zum Ausdruck kommt", erklärte Charim.
Die Stoßrichtung des Bürgergesellschaftskonzeptes sei eindeutig,
sagte Charim: "Institutionen, nicht der Staat, sind der Garant für
die Werte des Gesellschaftsvertrages." Dies zwänge jedoch "den
Aktivbürger in das Korsett der Institutionen" und führe also nicht zu
mehr individueller Autonomie. "Hier ersetzt die Solidarität die
Autonomie", folgerte Charim, "der "Aktivbürger" werde gegen den
"Sozialschmarotzer" gestellt, und Kohl selbst hat gesagt, wohin dies
führt, indem er meinte, dass die Solidarität bewirkt, dass "der
Pfusch angezeigt wird".
"Die Bürgergesellschaft", schloss Charim, "steht gegen den
Sozialstaat." Der Begriff vermittle "Wärme und Geborgenheit", die der
Kälte des Sozialstaats gegenüber gestellt sei. "Heimat ist hier nicht
mehr auf der Ebene des Staates, sondern nur mehr auf jener der
Gesellschaft zu realisieren. Das ist neoliberaler Patriotismus." In
dieser "Heimat" würde es keine Klassendifferenzen mehr geben, sie sei
eine "versöhnte Gesellschaft". "Dieses Idyll", so Charim, "klammert
klassenspezifische Unterschiede und damit politische Vereinigungen
einfach aus. Das ist absurd." (Schluss) nf
Rückfragehinweis: Pressedienst der SPÖ
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