Wien (PK) - Die rechtstaatliche, am Grundsatz der Gleichwertigkeit
aller Bürgerinnen und Bürger orientierte Demokratie brauche nicht nur
den Organisationsgrundsatz der Gewaltentrennung, sondern auch einer
sinnvollen Gewaltenverbindung, nämlich das Zusammenwirken der
Staatsorgane bei der Erfüllung der Staatsaufgaben. Das erklärte heute
Vormittag Nationalratspräsident Heinz Fischer in seiner Festansprache
im Rahmen der 125-Jahr-Feier des Verwaltungsgerichtshofs. Auch
richterliche Entscheidungen seien der Kritik nicht entzogen, sagte
Fischer, doch dürfe die Kritik nicht ein Ausmaß erreichen, wo der
richterliche Entscheidungsspielraum eingeengt und Druck ausgeübt
werde. Der Bundesstaatsreform, wie sie im Perchtoldsdorfer Abkommen
des Jahres 1992 zusammengefasst ist, erteilte der
Nationalratspräsident neuerlich eine klare Absage, sie sei eine
"Totgeburt". Die zu errichtenden Landesverwaltungsgerichte sollten
nicht nur kassatorische Befugnisse haben, sondern auch reformatorisch
wirken können. Zur Diskussion stellte Fischer schließlich die
Eröffnung der Möglichkeit der "dissenting opinion" und die Erhöhung
des Frauenanteils in der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Die Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor 125 Jahren müsse im
Zusammenhang des Übergangs zu konstitutionellen und zu
rechtstaatlichen Verhältnissen gesehen werden, führte Fischer in
seinem Festvortrag in der Akademie der Wissenschaften aus. So sei es
bis heute geblieben: Die rechtstaatliche Demokratie ruhe nicht nur
auf einer, sondern auf mehreren Säulen: "Sie bedarf einer
Gesetzgebung mit Augenmaß, einer innovativen aber gesetzestreuen
Verwaltung und einer unabhängigen Gerichtsbarkeit", sagte der
Nationalratspräsident. Neben der Gewaltentrennung brauche es auch die
Gewaltenverbindung im Sinne eines Zusammenwirkens der Staatsorgane
bei der Erfüllung der Staatsaufgaben. Die Demokratie könne nicht
besser funktionieren, als die schwächste Säule dies zulässt. Daraus
resultiere die gemeinsame Verantwortung von Gesetzgebung, Verwaltung
und Gerichtsbarkeit für die Qualität des Rechtsstaates.
Die Probleme lägen allerdings nicht so sehr in der Theorie, sondern
vielmehr in der Praxis. In der Theorie bestehe Rechtsprechung darin,
eine Norm auf einen Sachverhalt anzuwenden. In der Praxis sei dies,
angesichts der unendlichen Vielfalt von Lebenssituationen und
angesichts der Unzulänglichkeit bzw. Unschärfe mancher Normen, aber
schwierig, betonte Fischer, und kam dann auf Auseinandersetzungen der
jüngsten Vergangenheit zu sprechen. In der Demokratie stehe niemand
außerhalb des Gesetzes und niemand über dem Gesetz: "An allen
Entscheidungsträgern und an allen Entscheidungen eines demokratischen
Systems ist grundsätzlich Kritik zulässig", fasste Fischer seine
Position zusammen. "Aber es kommt darauf an, wie sie formuliert wird
und welche Stoßrichtung sie hat. Wenn die Kritik an richterlichen
Entscheidungen nicht nur auf eine vermeintliche oder tatsächliche
Problematik hinweist oder eine abweichende Auffassung darzulegen
versucht, sondern ein Ausmaß erreicht, wo der richterliche
Entscheidungsspielraum de facto eingeengt werden soll und Druck
ausgeübt wird, dann wird die zulässige Grenze überschritten."
Präsident Fischer ging in seiner Festrede sodann auf den
"umfangreichen und unbestrittenen Reformbedarf" der österreichischen
Verwaltungsgerichtsbarkeit ein und kam in diesem Zusammenhang auf die
Bundesstaatsreform zu sprechen, deren bisherige Ansätze er für "nicht
sehr zielführend" hält. Die im Perchtoldsdorfer Abkommen 1992
zusammengefassten Reformvorstellungen wären ein "Paket von
Kompetenzgeschenken" der Regierung zu Lasten des Bundesgesetzgebers
an die Bundesländer gewesen, mit dem diesen der EU-Beitritt
schmackhaft gemacht werden sollte. Eine derartige Reform verdiene den
Namen Bundesstaatsreform nicht und sei "in Wahrheit eine Totgeburt"
gewesen, sagte Fischer und skizzierte sein Verständnis von
Bundesstaatsreform als "Lösung der Frage, wie die Aufgabenverteilung
in unserem mehrstufig organisierten Gemeinwesen am effizientesten und
am kostengünstigsten gelöst werden kann".
Zum Thema Landsverwaltungsgerichte übergehend sprach sich der
Nationalraspräsident für "mutige Lösungen" und dafür aus, "dass die
Verwaltungsgerichtshöfe Erster Instanz reformatorisch, also in der
Sache selbst, entscheiden und nicht nur kassatorische Befugnisse
haben". Zusätzlich sollte in der Verwaltungsgerichtsbarkeit darüber
nachgedacht werden, ob nicht das Institut der "dissenting opinion"
Anwendung finden könnte und ob nicht der Frauenanteil erhöht werden
sollte. Er könnte sich vorstellen, dass analog der Bestimmung, dass
wenigstens ein Viertel der Verwaltungsrichter aus Berufsstellungen
der Länder kommen soll, auch hinsichtlich des Frauenanteils
vorgegangen werden könnte.(Schluss)
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