• 24.07.1999, 08:00:01
  • /
  • OTS0015

Rede von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am 24. Juli 1999=

Verehrte Festgemeinde!

Lassen Sie mich – vor allem anderen – zuerst dem Genius Salzburgs
meine Reverenz erweisen: Es ist für mich – Jahr für Jahr – stets
aufs Neue ein besonderes Erlebnis, hier die Harmonie einer
Geographie zu fühlen, die Stadt und Land, Alpen und Flachgau, Fluß
und Felsen, Musik und Sprache, Künstler und Publikum vereint.

Viel besser als ich hat es wohl Stefan Zweig ausgedrückt, als er
die Entwicklung der Salzburger Festspiele aus dem buchstäblichen
Nichts – und nach dem grauenvollen Ersten Weltkrieg – beschrieb:
"Mit einemmal wurden die Festspiele eine Weltattraktion, gleichsam
die neuzeitlichen Olympischen Spiele der Kunst . . . nie war in
Europa eine ähnliche Konzentration der schauspielerischen und
musikalischen Vollendung gelungen wie in dieser kleinen Stadt des
kleinen und lange mißachteten Österreich".

Und Carl Zuckmayer, der auf der Flucht vor den deutschen
Nationalsozialisten 1933 in Salzburg heimisch geworden war,
beschrieb die besten und ungetrübtesten Jahre seines Lebens in der
"Gelöstheit eines Salzburger Sommers im Herzen des aufgewühlten
Europas": Wo keine Feste gefeiert werden, so Zuckmayer, versinkt
das Leben in Barbarei; erst "die festliche Feier erhebt den
Menschen aus der Dumpfheit des Gruppendaseins zur Heiterkeit der
freien Person".

Der Start zum Wunder der Salzburger Festspiele erfolgte bereits
unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – angesichts von
nationalen Tragödien und inmitten von Armut und bitterster Not.
Wer unter der intellektuellen und künstlerischen Elite im Wien der
Jahrhundertwende – jener eruptiven und so ungeheuer produktiven
"Versuchsstation des Weltuntergangs" – überlebt hatte, wollte zu
einer Wiedergeburt des guten Österreichischen beitragen. Aber es
war letztlich vor allem der große Dichter Hugo von Hofmannsthal,
der zusammen mit dem Regisseur Max Reinhardt den Festspielen im
damals kleinen und verschlafenen Salzburg eine visionäre Rolle
zuordnete.

Meine Damen und Herren!

Ich betone das so ausdrücklich, weil es jetzt genau 80 Jahre her
sind, daß Hofmannsthal die maßgeblichen Antworten auf
selbstkritische Fragen gegeben hat. Was er damals niederschrieb,
ist bis heute das eigentliche Gründungsdokument der Festspiele,
eine Art kulturpolitische Magna Charta für Salzburg. Es sind ganz
einfache Worte von visionärer Kraft und bemerkenswerter Weitsicht.
Heute wissen wir, daß damit eine unglaubliche Erfolgsgeschichte
ihren Anfang nahm – eine Erfolgsgeschichte, die bis in die
heutige Zeit reicht. Und auch die Frage, was denn die Salzburger
Festspiele im Grunde sein sollen, ist bis heute gültig und daher
auch Gegenstand grundsätzlicher Diskussionen.

So macht es wohl mehr Sinn denn je, in seinem 80. Jahr dieses
Gründungsmanifest aufs Neue zu lesen; und ich empfehle die
intensive Lektüre sowohl den Verantwortlichen in den Gremien der
Festspiele wie den Kritikern in den Medien und all jenen, denen
die Festspiele am Herzen liegen.

Wobei im Rückblick auf 80 Jahre Planung und Verwirklichung wohl
zuerst jener Frauen und Männer gedacht sei, die damals – 1919 und
in der Folge – aus schwierigsten Anfängen die Salzburger
Festspiele geboren haben; und jener, die bis 1938 und dann wieder
nach 1945, das unverwechselbar Österreichische hochgehalten haben.
Schließlich erinnern wir uns auch dankbar an jene, die in den
letzten Jahrzehnten Salzburg zu einem einzigartigen Kosmos der
Musik und des Wortes gemacht haben. Ganz Österreich erinnert sich
ihrer mit Dank – und ist stolz, daß viele hier ihre künstlerische
Heimat gefunden haben.

Lassen Sie mich aber auf Hugo von Hofmannsthal und seine
programmatischen Aussagen vor 80 Jahren zurückkommen. Warum
wollten er und Max Reinhardt, Franz Schalk und Richard Strauss
gerade in Salzburg Festspiele begründen?

Ich zitiere: "Das Salzburger Land ist das Herz vom Herzen Europas.
Es liegt halbwegs zwischen der Schweiz und den slawischen Ländern,
halbwegs zwischen dem nördlichen Deutschland und dem lombardischen
Italien . . .", und er fügte hinzu: "Das mittlere Europa hat
keinen schöneren Raum – und gerade hier mußte Mozart geboren
werden".

"Das Herz vom Herzen Europas": Hofmannsthal sagte es im Schatten
von Faschismus und Chauvinismus, von Räterepubliken und
Nationalsozialismus. Aber er sagte 1919 noch etwas anderes: "Den
Glauben an Europa zu verleugnen, hätte niemand den Mut . . . er
ist das Fundament unseres geistigen Daseins".

Europa 1919, Europa 1999: Ich meine, es gibt kaum ein aktuelleres
Wort zu einem Programm, dem wir auch heute verpflichtet sind –
kulturell, politisch, ökonomisch. Dabei beschrieb Hofmannsthal
damals eine in jeder Beziehung irreale Utopie – ganz und gar gegen
den Zeitgeist, ganz und gar gegen die Nationalstaats-Idee, ganz
und gar auch gegen die politischen Massenbewegungen der
Zwischenkriegszeit. Aber genau damit begründete er die geistige
Souveränität Salzburgs, die Überzeitlichkeit und das bewußte
Bekenntnis zu einem Festspiel der grenzenlosen Offenheit und
Übernationalität. Das war und ist beste österreichische Tradition,
die aber gestern – wie auch heute – ihre Gegner, Verächter und
Neider fand und findet. Darum möchte ich betonen: Die Salzburger
Festspiele müssen bleiben, was sie immer gewesen sind –
unverwechselbare europäische Spiele, die den europäischen Geist
atmen und West wie Ost, Nord wie Süd einschließen. Wer könnte das
besser ausdrücken als Hugo von Hofmannsthal selbst: "Die Nationen
sollen in Salzburg einander in ihrem Höchsten erkennen, nicht in
ihrem Trivialsten".

Meine Damen und Herren!

Es gibt in einer Zeit der Banalisierung und Trivialisierung der
Freizeit-Gesellschaft an der Schwelle des Jahres 2000 viele, die
meinen, Festspiele seien altmodisch und unaktuell; und manche, die
meinen, daß anspruchsvolle Programme scheitern müssten angesichts
des kommerziellen Drucks, des geänderten Massengeschmacks und der
technischen Zwänge in einer vernetzten Welt. Im übrigen finden
Kritiker der Festspielidee, man könne sich nicht an elitären
Maßstäben orientieren, sondern müsse dem demokratischen
Verständnis von "Kultur" entsprechen; das soll heißen:
Konfrontation statt Harmonie, Provokation statt Gleichklang,
Spektakel statt Werktreue, "Stückezertrümmerung" statt
humanistisches Bildungstheater.

Hier kommt der Satz von Robert Musil in den Sinn, den er auf die
untergegangene Donaumonarchie bezog, den ich aber gerne auch für
das heutige Österreich in Anspruch nehmen möchte: "In Kakanien
wurde immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten – aber
niemals, wie es anderswo vorkam, der Lümmel schon für das Genie".

In sehr klaren Worten hat auch hier Hofmannsthal eine Antwort auf
die Frage gegeben, ob die Festspiele für die Gebildeten da seien
oder für die Masse. Wörtlich sagte er: "Wer den Begriff des Volkes
vor der Seele hat, weist diese Trennung zurück".

Es waren letztlich drei ganz klare Auflagen, die von der Gründung
an Salzburgs Festspielidee bestimmten; und ich meine, sie haben an
Gültigkeit nichts verloren:

- Erstens: Zwischen den Schlössern Hellbrunn und Mirabell,
zwischen Felsenreitschule und Domplatz wird vor allem anderen ein
Fest gefeiert. Das besonders Schöne und Kluge, Nachdenkliche und
Erschütternde hat in Salzburg durch Musik und Wort seelisches
Heimatrecht. Wer aber Feste nicht mag, kann im Kulturbetrieb
unserer Zeit an anderen Orten dem aufgeregten Allerwelts-Trubel
folgen. An der Salzach aber müssen Stil und Geschmack auch in
Zukunft maßgeblich bleiben.

- Zweitens: Die Salzburger Festspiele haben eine für Österreich
identitätsstiftende Rolle übernommen. Unser Land ist mit großer
Freude Gastgeber der Welt. Und wir sind stolz, hier einzigartige
Höhepunkte der Kunst bieten zu können – vom Barock bis zur
Gegenwart. So galt hier von Anfang an die Maxime, die besten
Orchester, die besten Dirigenten und die besten Solisten der Welt
zu versammeln.

- Drittens: Am Geburtsort von Wolfgang Amadeus Mozart muß dem
Genius respektvoll und demütig gehuldigt werden. Millionen
Menschen in aller Welt empfinden beim Klang seiner Musik Gefühle
des Glücks, weil Mozart über den Zeiten steht.

Hofmannsthal hat auch dafür klare Vorgaben entwickelt: Die
Festspiele sollen Mozarts Geist und seine Werke intensiv pflegen.
Aber dies soll kein Gebot der Ausschließlichkeit sein, ja ganz im
Gegenteil soll in Salzburg die Musik der ganzen Welt zu Hause
sein. Legendäre, exemplarische Aufführungen der großen Italiener,
deutscher und französischer Komponisten haben den Salzburger
Kosmos stets mitbestimmt; und immer war auch viel
Zeitgenössisches, Modernes dabei. Die Liste der Aufführungen liest
sich wie ein Querschnitt aus der europäischen Musikliteratur –
Rimskij-Korsakow 1928, Hugo Wolf 1936, Gottfried von Einem 1947 –
vor allem aber natürlich Richard Strauss, der so ungeheuer
wichtige Mitgestalter der Salzburger Festspiele, dessen 50.
Todesjahr wir heuer begehen.

Meine Damen und Herren!

Der Dichter Hofmannsthal hat nicht nur der Musik, er hat auch dem
Wort eine gleichgewichtige Bedeutung zugemessen, wenn er sich auf
den großen Bogen von der Antike über Shakespeare, Calderon,
Molière bis in die Gegenwart beruft, der in Salzburg seinen Platz
haben müsse.

Und der "Jedermann"? – Im Kosmos der europäischen Literatur ist
sein Schicksal eine zeitlose Parabel von Leben und Tod. Das ist
es auch, was Jahr für Jahr das Publikum seit acht Jahrzehnten
ergreift. Dieser "Jedermann" ist an der Jahrtausendwende so
zeitgemäß wie bei seiner Premiere im August 1920, als der
Reingewinn Invaliden, Kriegswaisen und Kriegsgefangenen des Ersten
Weltkriegs zugute kam. Oder sollen heute Solidarität mit den
Beladenen dieser Welt, soziale Hilfsbereitschaft, Einsicht und
Reue altmodische Begriffe sein – wenn wir im Fernsehen
verhungernde Menschen in Afrika oder Minenopfer im Kosovo
erblicken? Ist dieser Edelmann Jedermann etwa nur ein Phänomen des
Mittelalters, der Renaissance oder des Barock? Gilt seine
Botschaft nichts in der Zeit der globalisierten Märkte und der
shareholder values?

Der Stoff des "Jedermann" ist so aktuell wie eh und je. Und er ist
eine Chiffre des österreichischen Lebenskosmos. Vor allem ist er
ein Schlüsseldrama im Geist einer jüdisch-christlichen Weltsicht –
gnadenlos von den Nationalsozialisten bekämpft und 1938 auch
sogleich verboten. Es hatte seinen Grund, warum die braunen
Machthaber über die "jüdisch-kosmopolitische Fratze" Salzburgs
geiferten, warum sie vom "jüdisch-österreichischen Bollwerk gegen
Deutschland" schrieben und hier den "jüdischen Hexensabbat"
ausräuchern wollten. Tatsächlich haben diese Festspiele auch eine
stolze Tradition, zwischen 1933 und 1938 zahllosen vertriebenen
jüdischen Künstlern aus Deutschland Arbeit und Gastrecht geboten
zu haben.

Der Auftrag an das Humane – Kultur als Versöhnungsversuch und
Friedensinstrument – ist daher ein unverwechselbarer Teil des
Österreichischen in der zentralen Botschaft Salzburgs.
Hofmannsthal zeigt uns auch dafür den Weg: "Das Salzburger
Programm", so sagt er, "schließt das Finstere ohne Hoffnung, das
innerlich Gewöhnliche und das völlig Weihelose aus. Und aus der
Harmonie mit dem Begriff Salzburg ergibt sich klar, was
aufzunehmen, was wegzulassen ist".

Meine Damen und Herren!

Die Festspiele, die heute beginnen, sind die letzten in diesem
Jahrhundert. Irrationale Ängste, Kalendermagie und Zukunftsangst
werden uns noch bis zum Jahresende zu schaffen machen. Der nach
wie vor schwelende Konflikt im unruhigen Südosten unseres
Kontinents, ethnisches und politisches Krisenpotential, Verarmung
der Menschen in Teilen Osteuropas und in Rußland müssen uns
sorgenvoll und nachdenklich machen.

Seit jeher sind aber die Schöpfungen der Kultur die
unentbehrlichen Nährstoffe des menschlichen Bewußtseins – weil sie
uns Hoffnung geben. Sie eröffnen Welten, ohne die wir auf Dauer
nicht überleben können – selbst wenn wir sie mehr und mehr aus dem
Alltag verbannen.

Festspiele sind also letztlich "Heilstätten der Seele", in denen
wir den Staub des Tages abschütteln können. Gerade in Zeiten
großer Zukunftsangst und rasanter Veränderungen haben wir alle die
große Sehnsucht nach Oasen der Stille, nach weiten Horizonten und
zeitloser Klarheit.

Das galt damals, als das Spiel vom Sterben des reichen Mannes vor
dem Dom die Besucher zum ersten Mal erschütterte – aber auch
hoffnungsfroh stimmte; und es galt während so vieler Jahrzehnte,
in denen die unsterblichen Melodien Mozarts in seiner Geburtsstadt
Zuversicht, Demut und Glück zugleich herbeizauberten. Und das ist
auch heute genauso gültig wie damals.

Mag sein, daß hier in Salzburg auch im letzten Jahr dieses
Jahrhunderts die Aufgeregtheit um Spielplan, Besetzung und
Personalpolitik groß ist. Und sicherlich sind Erneuerung, Mut zum
Experiment und Innovation wichtig. Was aber bleibt, ist der große
Bogen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Einheit
verbindet und Hoffnung schafft.

Wir wissen, daß auch – oder gerade – in der Kunst niemand im
Besitz der Wahrheit ist; wir wissen aber ebenso, daß uns nur die
Kunst Augenblicke schenkt, in denen das über alle Zeiten Gültige
auf ganz besondere Weise die menschliche Gemeinschaft bestimmt und
bewegt.

Lassen Sie mich nochmals Hofmannsthal zitieren: "In der Gegenwart
ist immer jenes verborgen, durch dessen Hervortreten alles anders
werden könnte. Das ist ein schwindelerregender Gedanke, aber auch
ein trostvoller".

In diesem Geist erkläre ich die Salzburger Festspiele 1999 für
eröffnet!

* Bitte Sperrfrist beachten *

*** OTS-ORIGINALTEXT UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER

VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS ***

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | BPK/

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel