Wien (OTS) - Karl Landsteiner (1868 - 1943)
Der stille Pionier
Aber eigentlich war er ein Wiener, dessen Wiener Eltern gerade wie
gewohnt den Sommerurlaub in nahe gelegenen idyllischen Kurstadt
verbrachten.
Dasselbe trifft übrigens auch auf einen anderen berühmten
Österreicher zu, auf Max Reinhardt, der fünf Jahre nach Karl
Landsteiner in Baden, wo seine Wien Eltern urlaubten, auf die Welt
kam (und, wie Landsteiner, 1943 in New York starb). Auf die Frage
nach seiner Herkunft antwortete der junge Berliner Charakterdarst Max
Reinhardt um die Jahrhundertwende nicht ohne Stolz: "Ich bin ein
Wiener von Geburt".
So gibt auch Karl Landsteiner nur ein-, zweimal Baden bei Wien als
Geburtsort an sonst immer, der Einfachheit halber und weil es fast
stimmt, Wien. Wie in dem handgeschriebenen Curriculum Vitae, das er
am 12. Juni 1902 seiner Bewerbung um Habilitation an der Universität
Wien beilegt:
Der Gefertigte, geboren in Wien am 14. Juni 1868, besuchte das
Staatsgymnasium in Wien und legte daselbst im Jahre 1885 die
Maturitätsprüfung mit genügendem Erfolg ab.
Den medicinischen Studien oblag er an der Wiener medicinischen
Facultät, an welcher im Jahre 1891 zum Doctor der gesammten Heilkunde
promovirt wurde.
Der Gefertigte frequentirte hernach als Hospitant die von Hr.
Prof. Kahler geleitete Klinik für interne Medizin und beschäftigte
sich dann mit chemischen Untersuchuchungen am Polytechnikum in Zürich
und an den Universitäten von Würzburg und München. In den Jahren 1894
und 1895 war der Unterzeichnete Operationszögling an der
chirurgischen Klinik des Hr. Prof. Albert in Wien.
Im Jahre 1896 war er als Assistent im hygienischen
Universitätsinstitut in Wien thätig.
Seit dem Jahre 1897 fungiert derselbe vom 1. Juli - 30. September
d.J. als unbesoldeter vom 30. Sept 1897 bis jetzt als besoldeter
Assistent an der Lehrkanzel für pathologische Anatomie der Wiener
Universität.
Wien, am 12. Juli 1902, Dr. Karl Landsteiner, Assistent am pathol.
anatom. Institut
Als Karl Landsteiner 1868 geboren wurde, war sein Vater fünfzig,
die Mutter zweiunddreißig Jahre alt.
Der Vater, Dr. Leopold Landsteiner, war einer der berühmtesten
Wiener Journalisten des vorigen Jahrhunderts, vor 1848 Korrespondent
für deutsche Blätter in Paris, Redakteur der liberalen Wiener
"Presse" seit deren Gründung am 3. Juli 1848, dann Gründer und
Herausgeber der "Österreichischen Reichszeitung" und der Wiener
"Morgenpost".
Ein genauer, strenger, jeglichem Radikalismus abgeneigter Herr.
Wie später sein (einziger) Sohn Karl.
Karl Landsteiner ist sieben Jahre alt, als sein Vater einer
Herzattacke erliegt "Lungenödem" steht als Todesursache im
Sterberegister und "Seine Seele war edel stark und wahr wie nur bei
auserwählten Menschen" steht auf seinem Grabstein auf dem alten
jüdischen Währinger Friedhof.
Im Alter von etwas mehr als fünf Jahren ist Karl Landsteiner in
die Volksschule eingetreten. Das Mittelschulstudium absolviert er am
heutigen Wasagymnasium im neunten Wiener Bezirk, am Staatsgymnasium
in Linz und dann wieder am Wasagymnasium, wo er 1885 maturiert. Im
selben Jahr inskribiert er an der medizinischen Fakultät der
Universität Wien. Sein Hauptinteresse gilt der Chemie. Am Chemischen
Institut der Alma Mater Rudolfina entwickelt er erstaunliche
Fähigkeiten im Experimentieren. Den Militärdienst leistet er während
des Studiums in der Sanitätsabteilung des Garnisonsspitals Nr. 1. Die
Vorprüfungen und die ersten zwei Rigorosa werden mit "ausgezeichnet"
bewertet, das dritte Rigorosum erstaunlicherweise mit "genügend".
Im Februar 1891 promoviert Karl Landsteiner zum Doktor der
gesamten Heilkunde. Schon am 1. Juli erhielt er den militärischen
Rang eines Assistenzarztes in der Reserve erster Klasse Rangnummer 5.
Am 4. Dezember 1890, noch während des Studiums, wurde Karl
Landsteiner gemeinsam mit seiner Mutter in der Schottenkirche in die
römisch-katholische Religionsgemeinschaft aufgenommen.
Zwecks medizinischer Weiterbildung hospitiert er zunächst an der
II. Wiener Medizinischen Universitätsklinik bei Professor Otto
Kahler, dann studiert er in Würzburg beim späteren
Chemie-Nobelpreisträger Emil Hermann Fischer, in Zürich bei dem
deutschen Chemiker Arthur Hantzsch und in München beim a.o. Professor
für Chemie Eugen von Bamberger. Sowohl Fischer als auch Bamberger
publizieren mit Landsteiner, dem "jungen Anfänger", gemeinsame
Forschungsergebnisse.
1894/1895 ist Landsteiner "Operationszögling" an der I.
Chirurgischen Universitätsklinik in Wien. Noch ist Chloroform
hauptsächliches Narkotikum, noch wagt man sich, nach bösen
Erfahrungen, nicht an Bluttransfusionen. Noch werden Patienten als
"geheilt" entlassen und sind doch unheilbar krank, was Landsteiner,
mit den Ergebnissen seiner Experimente vor Augen, leicht erkennt. Und
was ihn unermüdlich weiterforschen läßt. Er kennt keinen Sonntag,
keinen Feiertag, so gut wie kein Privatleben. Und die Arbeitszeit,
die er sich vorschreibt, dauert bis tief in die Nacht hinein.
1896/97 ist Karl Landsteiner Assistent am Hygienischen Institut
der Universität Wien und von 1897 bis 1907 Assistent am
Pathologisch-Anatomischen Institut.
Zehn Jahre, in denen er nicht nur 3639 Obduktionen vornimmt,
sondern auch 75 Arbeiten über von ihm durchgeführte serologische,
bakteriologische, virologische und pathologisch-anatomische
Experimente und Studien verfaßt. Im Jahr 1900 nur eine einzige. Sie
hat den trockenen Titel "Zur Kenntnis der antifermentativen,
lytischen und agglutinierenden Wirkungen des Blutserums und der
Lymphe". Diese und ihr folgende Arbeiten Landsteiners führen zu dem
Schluß daß Blut nicht gleich Blut ist, daß es verschiedene
Blutgruppen gibt und daß ein Mensch mit einer bestimmten Blutgruppe
nicht das Blut einer anderen Blutgruppe verträgt.
Kein Jubelruf "Ich hab's gefunden!", kein "Aufschrei", der durch
die Ärzteschaft durch die Weltpresse geht, weil man jetzt weiß, warum
Bluttransfusionen bisher ja lebensgefährlich waren und daß jetzt
tausende, abertausende, Millionen Leben gerettet werden können.
Selbst in den Befürwortungen, mit denen Landsteiners Chefs, der
Serologe Max von Gruber und der Bakteriologe Anton Weichselbaum, zwei
Jahre später Landsteiners Ansuchen an das Ministerium, an der
Universität lehren zu dürfen, "ergebenst" unterstützen, wird seine
bahnbrechende Entdeckung nur als eine von 18 bemerkenswerten
Forschungsarbeiten erwähnt (Er selbst führt 21 an).
Mit 28 gegen 4 Stimmen beschließt das Professorenkollegium am 21.
März 1903 beim Ministerium für Kultus und Unterricht um die Erteilung
der Venia Legendi (der "Gnade, vortragen zu dürfen") an Landsteiner
anzusuchen. Er darf jetzt sein Wissen an Studierende weitergeben.
Acht Jahre später "geruhte Seine k. u. k. apostolische Majestät
Kaiser Franz Joseph I." Landsteiner "allergnädigst zum unbesoldeten
a.o. Professor der pathologischen Anatomie" zu ernennen.
Er hat inzwischen (1908) die Leitung der Prosektur am k.k.
Wilhelminenspital übernommen, die er bis 1919 innehaben wird.
Am 6. April 1908 ist seine geliebte Mutter gestorben. Ihre
Totenmaske wird imme seinem Schlafzimmer hängen, auch später in
Amerika.
Karl Landsteiner wohnt zunächst noch, wie in seinen
Studententagen, in der Frankgasse Nr. 6, neben dem Haus der
Gesellschaft der Ärzte.
Am 4. November 1916 heiratet er seine langjährige, wesentlich
jüngere Braut Leopoldine Helene Wlasto(s), die Tochter des Mesners
der Wiener griechisch-orientalischen Kirchengemeinde zum Heiligen
Georg, und erwirbt ein Haus in Purkersdorf. Am 8. April 1917 wird ihm
der einzige Sohn Ernst Karl geboren. 1918 tritt Helene Landsteiner
(in deren Elternhaus altgriechisch gesprochen wird) dem Gatten
zuliebe aus ihrer Glaubensgemeinschaft aus.
Das Leben in Wien wird in den letzten Kriegsjahren und in den
ersten Nachkriegsjahren unerträglich hart.
Landsteiner hat eine Ziege angeschafft, um genug Milch für sein
Kind zu haben. Eigenhändig pflückt er Kräuter als Zusatz- und
Frischnahrung für Ernst Karl.
Eines Nachts, 1919, brechen Holzsammler den Bretterzaun vor
Landsteiners Haus ab, um ihn als Brennholz zu verwenden.
Zweifel an einer gesicherten Zukunft für sich und seine Familie im
verarmten Nachkriegsösterreich und die Unmöglichkeit weiterer
wissenschaftlicher Forschung veranlassen den empfindsamen Forscher
dazu, Wien den Rücken zu kehren.
Als 1919 die Stelle eines Prosektors im kleinen Krankenhaus R.K.
Ziekenhuis in Den Haag frei wird, bewirbt er sich und erhält sie.
Freilich muß er, um seine Familie erhalten zu können, dazuverdienen
und arbeitet nebenbei in einer kleine medizinischen Firma an der
Herstellung von Alttuberkulin.
Und seine Arbeitsbedingungen im Krankenhaus? Ein Augenzeuge
berichtet: "Er erledigte die in einem Chemie-Laboratorium anfallende
Routine-Arbeit, untersuchte Harn- und Blutproben, machte
Wassermann-Tests und mikroskopische Untersuchungen, all das,
unterstützt nur von einer geistlichen Schwester und einem Diener, in
einem Raum, der auch für andere Zwecke benützt wurde; jeder Arzt, der
eine Harnprobe brauchte oder eine von der Schwester zubereitete Tasse
Kaffee oder nur einen Schwatz mit Landsteiner, trat zwanglos ein.
Lauter reizende, honette Leute, sie mögen Landsteiner sehr, aber sie
treiben ihn zur Verzweiflung. Er versucht's zu verbergen, aber er muß
um jede Viertelstunde, in der er ungestört arbeiten kann, kämpfen."
Unbeirrt und unermüdlich forscht Karl Landsteiner weiter. Er
bewohnt mit seiner Familie ein Haus mit Rosengarten am Meer in
Scheveningen, und als ihn das Rockefeller-Institut für medizinische
Forschung 1923 einlädt, seine Tätigkeit auf Lebensdauer in New York
fortzusetzen und man ihn nach seinen Wünschen fragt ist der erste
Wunsch: "Ein kleines Häuschen mit einem Rosengarten am Meer". Ein
Wunsch, der unerfüllt bleibt. Dr. Landsteiner lebt und arbeitet im
New Yorker Asphaltdschungel.
Und ist oft sehr unglücklich. Er muß sein Klavier verkaufen, weil
sein - übrigens virtuoses - Klavierspiel die Nachbarn beim Radiohören
stört. Die Kollegen können seinen Kummer oft nicht ergründen.
Harvard-Professor für Immunologie Hans Zinsser, der auf Besuch kommt,
sagt kameradschaftlich-herzlich: "Weißt Du, Karl, du bist ein alter
Raunzer!"
Karl Landsteiner forscht und arbeitet weiter. Wie ein Besessener.
1930 erhält er auf Vorschlag von Julius Wagner-Jauregg, dem
Medizin-Nobelpreisträger 1927, für die am Beginn des Jahrhunderts
gemachte Entdeckung der Blutgruppen den Nobelpreis für Medizin. Dabei
erscheinen ihm seine Forschungsergebnisse über Antikörper und
Antigene viel wichtiger.
Seinem Schüler und Mitarbeiter Philip Levine vertraut er nach der
Verleihung an daß es ihm lieber gewesen wäre, den Nobelpreis für
seine Beiträge zur chemische Grundlage serologischer Reaktionen
erhalten zu haben.
In seiner Rede vor dem Nobelpreis-Komitee und den Ehrengästen in
Stockholm, der er den Titel "Über individuelle Unterschiede des
menschlichen Bluts" voransetzt, führt Landsteiner seine Entdeckung
der Blutgruppen und spätere von ihm und sein Mitarbeitern erzielte
Forschungsergebnisse als Beweis dafür an, daß es entgegen der bis zur
Jahrhundertwende vorherrschenden Meinung nicht nur zwischen
verschiedenen Arten, sondern auch innerhalb ein und derselben Art
eine Unzahl von Strukturdifferenzen gibt, die, etwa bei
Bluttransfusionen, von ungeheurer Wichtigkeit sind. Er postuliert,
daß es außer eineiigen Zwillingen kaum zwei Individuen mit der
gleichen Zellstruktur gibt.
Wiederholt weist er in diesem Vortrag auf die Verdienste seiner
Mitarbeiter Merrill Chase, James van der Scheer, Clara Ida Nigg,
Philip Levine und Alexander Solomon Wiener hin.
Diese verschworene Gemeinschaft, die ihm den Spitznamen "Chief"
verliehen hat (was in der amerikanischen Umgangssprache sowohl Boss
als auch Häuptling bedeutet), vergöttert ihn, obwohl er seinen
Mitarbeitern alles abverlangt, ihnen erbarmungslos seine rastlose,
peinlich genaue Arbeitsweise aufzwingt. Jedes Experiment, über das
sie ihm berichten, muß, auch wenn sie es für nebensächlich halten,
vor seinen Augen wiederholt werden ...
Nach dem Nobelpreis gibt es jede Menge weitere Ehrungen für Karl
Landsteiner. Die englische Universität Cambridge, die Freie
Universität Brüssel und die amerikanische Harvard University
verleihen ihm die Ehrendoktorwürde; weitere Universitäten in Welt
folgen dem Beispiel; leider keine in Österreich. Die einzige Ehrung
in der Heimat, über die er sich freuen darf, ist die
Ehrenmitgliedschaft bei der Wiener Gesellschaft der Ärzte. Er erhält
auch die Mitgliedschaft, meist die Ehrenmitgliedschaft, der Deutschen
Akademie der Naturforscher, der Société Belge de Biologie, der
American Philosophical Society, der New York Academy of Medicine, der
American Society of Naturalists, der Pathological Society of
Philadelphia, der Harvard Society, der Royal Society of London, der
Pathological Society of Great Britain and Irel der Royal Society of
Medicine, der Medical Chirurgical Society of Edinburgh, der Königlich
Schwedischen Akademie der Wissenschaften, der Schwedischen Akademie
Medizinischen Gesellschaft, der Dänischen Akademie der Wissenschaften
und der italienischen Reale Academia della Scienza.
Außerdem wird Karl Landsteiner zum Mitglied der Französischen
Ehrenlegion und der Französischen Akademie der Wissenschaften
ernannt.
In der österreichischen Heimat kommt er erst spät zu Ehren.
1951 wird an der Außenwand der Prosektur des Wiener
Wilhelminenspitals, Landsteiners Wirkungsstätte von 1907 bis 1919,
eine von der Stadt Wien "ihrem großen Sohn" gewidmete Gedenktafel
angebracht.
Am 28. August 1961 enthüllt Universitätsprofessor Dr. Hermann
Chiari, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und Vorstand
des Pathologisch-Anatomischen Instituts, in dessen Laboratorium Karl
Landsteiner seine bahnbrechenden Experimente und Entdeckungen gemacht
hat, im Arkadenhof der Universität Wien ein Landsteiner-Relief. Ein
zweites derartiges Bild wird am selben Tag im Serologischen
Laboratorium des Pathologisch-Anatomischen Instituts enthüllt.
Landsteiner-Reliefs finden sich unter anderem auch in der Polio
Hall Of Fame in Georgia Warm Springs, U.S.A. (zum Gedenken an den
Vorkämpfer gegen die Kinderlähmung), in Würzburg, in Erfurt und in
Chicago.
Obwohl Karl Landsteiner 1929 die amerikanische Staatsbürgerschaft
angenommen hat, wird er nie völlig Amerikaner. Besonders wenn er -
was selten vorkommt - in Wut gerät, bedient er sich der deutschen
Muttersprache. 1933, bei einem Urlaub in Tirol, wünscht er sich,
wahrscheinlich nur einem Impuls folgend, Vorstand des Hygienischen
Instituts in Innsbruck zu sein.
In seinem spärlichen Privatleben in New York verzichtet Karl
Landsteiner auf Auto, Radio und Telefon. Nicht etwa, weil er etwas
gegen moderne Errungenschaften hätte. Er ist ja seiner Zeit weit
voraus. Aber er möchte sich abends zuhause ungestört seinen
wissenschaftlichen Arbeiten widmen können.
Zur Entspannung liest er gerne heimlich Kriminalromane. Er
erachtet es als unter seiner Würde und will nicht dabei ertappt
werden.
Unter der Würde eines Mannes, der um die Jahrhundertwende die
Blutgruppen entdeckte und die Spezifität der Antigene experimentell
untersucht hat. Der wenig später Wassermann-Methode in der
Syphilis-Diagnose entscheidend verbessert hat. Der, ebenfalls noch in
seinen Wiener Forscherjahren, den Weg zur Gewinnung des
Serumsgefunden hat, das Jahrzehnte später dem amerikanischen Forscher
Jonas Salk zur Herstellung des Impfstoffs gegen die Kinderlähmung
verhelfen wird.
Gemeinsam mit Philip Levine, der sieben Jahre lang sein Assistent
am Rockefeller-Institut ist (Levine: "Meine Unterordnung unter
Landsteiner war zunehmend angenehm und beständig - wie zwischen einem
anhänglichen ,Sohn' und dessen ,Vater'"), findet er 1927 die unter
anderm für den Vaterschaftsnachweis bedeutsamen Blutmerkmale M, N und
P.
Mit seinem französischen Kollegen, dem Chirurgen, Biologen und
Soziologen Alexis Carrell, der seit 1896 am Rockefeller-Institut
arbeitet und 1912 für seine Erkenntnisse über das Blutgefäßsystem den
Nobelpreis für Medizin und Physik erhalten hat, führt Landsteiner
lange Mittagstischgespräche nicht nur über das gemeinsame Fachgebiet,
sondern auch über die Wunderheilungen in Lourdes. Er möchte, wie
immer, dem Unerforschten auf den Grund kommen.
Bei solchen Gesprächen besteht seine Mittagsmahlzeit meist nur aus
einem Apfel.
Sein einziger Sohn, Dr. Ernst Karl Landsteiner, hat an der
medizinischen Fakultät der Harvard-Universität promoviert und sich in
Rhode Island als erfolgreicher Chirurg etabliert.
1939 beendet der 71jährige Karl Landsteiner seine aktive
Mitgliedschaft beim Rockefeller Institute for Medical Research. Das
Institut stellt ihm jedoch was ungewöhnlich ist, weiterhin einen
kleinen Mitarbeiterstab und ein kleines Laboratorium zur Verfügung.
Dort experimentiert Landsteiner weiter und dokumentiert die
Ergebnisse seiner Forschungsarbeit in 28 Publikationen. Eine von
ihnen enthält in nüchternen Worten den Bericht über eine medizinische
Großtat: Dem 72jährigen Karl Landsteiner ist es gelungen, gemeinsam
mit seinem Assistent Alexander S. Wiener, den wichtigsten Teilfaktor
(medizinisch: Hauptantigen) eines Systems erblicher
Blutkörperchenmerkmale des Menschen zu entdecken. Sie nennen ihn nach
dem Versuchstier, dem Rhesusäffchen, Rhesusfaktor oder kurz
Rh-Faktor. Das Wissen über ihn ist lebenswichtig bei
Bluttransfusionen und bei Schwangerschaften.
Karl Landsteiner kann auf ein großartiges Lebenswerk im Dienst der
Menschheit zurückblicken.
Und studiert im hohen Alter verbissen und verzweifelt Onkologie,
um seiner geliebten Frau helfen zu können, die von den Ärzten
aufgegeben worden ist.
Helene Landsteiner ist an Schilddrüsenkrebs erkrankt und Karl
Landsteiner bietet in seinem kleinen Laboratorium all seine
Fähigkeiten und sein Wissen auf, um ihr Leben zu retten.
Der Überarbeitung und der schließlichen Erkenntnis, daß sein
Bemühen hoffnunglos ist, hält er nicht stand. Am 26. Juni 1943, kurz
nach seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag erleidet er in seinem
Laboratorium einen schweren Herzanfall, zwei Tage später stirbt er.
Am 25. Dezember 1943 stirbt seine Frau.
Auf der Massachusetts vorgelagerten Insel Nantucket, wo Karl
Landsteiner mit den Seinen viele beschauliche "Arbeitsurlaube"
verbracht hat, finden Karl und Helene Landsteiner ihre letzte
Ruhestätte.
"Ein echtes Genie und einer der schöpferischesten Männer unserer
Zeit." schreibt sein Schüler und Mitarbeiter Philip Levine, "Karl
Landsteiner, wahrscheinlich einer der größten Wissenschaftler seiner
Zeit und aller Zeiten".
Karl Landsteiner - in Kürze
KARL LANDSTEINER, am 14. Juni 1868 als Sohn des prominenten
Journalisten Dr. Leopold Landsteiner in Baden bei Wien geboren, war,
nach einem Bonmot, "der einzige Mediziner, der Einstein nicht nur
studiert, sondern auch verstanden hat".
1891 promovierte er an der Universität Wien zum Doktor der
gesamten Heilkunde. Sein Hauptinteresse galt von Anfang an der
Chemie.
Unermüdlich forschend, entdeckte er 1900/1901 bei einem seiner
vielen Experimente im Laboratorium des Wiener
Pathologisch-Anatomischen Instituts die Tatsache, daß es mehrere
Blutgruppen gibt und ermöglichte damit lebensrettende
Bluttransfusionen.
Er verfeinerte die Wassermann-Methode bei der Syphilis-Diagnose
und fand den Weg zur Herstellung des Serums, der Jahrzehnte später
dem amerikanischen Forscher Jonas die Herstellung des Impfstoffs
gegen Kinderlähmung ermöglichte.
1903 habilitierte er an der Wiener Universität, seit 1911 war er
a.o. Universit Von 1908 bis 1919 leitete er die Prosektur am Wiener
Wilhelminenspital.
1919-1923 war er Prosektor in einem kleinen Spital in Den Haag,
1923 lud ihn da Rockefeller-Institut für medizinische Studien ein,
seine Forschungsarbeit auf Lebenszeit in New York fortzusetzen.
1930 wurde ihm auf Vorschlag von Julius Wagner-Jauregg für seine
zu Beginn des Jahrhunderts gemachte Entdeckung der Blutgruppen der
Nobelpreis für Medizin verliehen. Er allerdings hält seine Arbeiten
auf dem Gebiet der Immunologie und seine Erkenntnisse über Antigene
und Antikörper für wichtiger.
Gemeinsam mit Philip Levine entdeckte er 1927 die unter anderem
für den Vaterschaftsnachweis bedeutsamen Blutmerkmale M, N, P,
gemeinsam mit Alexander S. Wiener entdeckte er 1940 den bei
Bluttransfusionen und Schwangerschaften entscheidenden Rhesusfaktor.
In seinen letzten Jahren studierte er Onkologie, um seiner an
einem bösartigen Schilddrüsengeschwür erkrankten Gattin Helene helfen
zu können. Erschöpft und verzweifelt erlitt er am 26. Juni 1943, kurz
nach seinem 75. Geburtstag in seinem Laboratorium einen Schlaganfall
und starb zwei Tage da Seine Frau überlebte ihn um ein halbes Jahr.
QUELLEN:
P. Speiser/F.G. Smekal, "Karl Landsteiner". Verlag
Blackwell/Ueberreuter Wissen Berlin 1990
Encyclopaedia Britannica
Pia Maria Plechl, "Karl Landsteiner". In "Große Österreicher",
Ueberreuter, Wien, 1985
Rückfragehinweis: Oesterreichische Nationalbank
Sekretariat des Direktoriums/
Öffentlichkeitsarbeit
Tel.Nr.: 404 20 DW 6666
Internet: http://www.oenb.co.at/oenb
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