- 25.02.2015, 12:36:06
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Soziologe Klaus Dörre auf Armutskonferenz: Prekarität frisst sich vom Rand in die Mitte
Niedriglohnsektor kein Sprungbrett: Nur 12% kommen raus / Verschiebung der „Schwelle der Respektabilität nach unten“
Utl.: Niedriglohnsektor kein Sprungbrett: Nur 12% kommen raus /
Verschiebung der „Schwelle der Respektabilität nach unten“ =
Wien (OTS) - "Immer mehr Menschen werden über unwürdige und
entwürdigende Arbeit in den Arbeitsmarkt integriert", analysiert
Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena, in seinem Referat
heute vormittags auf der 10.Armutskonferenz , die in Salzburg mit 400
TeilnehmerInnen aus Wissenschaft, Selbsthilfeinitiativen, sozialen
Organisationen, Bildungseinrichtungen und Armutsbetroffenen
stattfindet.". In seinem Vortag warnt der renommierte Soziologe vor
dem "Modell Deutschland" und seinen Konsequenzen für Menschen am
unteren Rand der Gesellschaft. Deutschland habe den raschest
wachsenden Niedriglohnsektor Europas. "Seit den 1980er Jahren erleben
wir einen Fahrstuhleffekt nach unten, der in Deutschland eine prekäre
Vollerwerbsgesellschaft hervorgebracht hat." Prekarität "frisst sich
mittlerweile vom Rand in die Mitte hinein". Die Mehrzahl der Menschen
im Niedriglohnsektor verfügen über eine abgeschlossene
Berufsausbildung, so Dörre.
In der soziologischen Diskussion bezeichnet Prekarität unsichere,
instabile Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Prekär
ist eine Beschäftigung dann, wenn sie nicht dauerhaft oberhalb eines
gesellschaftlich definierten Minimums Existenz sichernd ist und
deshalb in den Dimensionen Arbeitszufriedenheit, soziale
Wertschätzung/Anerkennung, Partizipation und längerfristige
Lebensplanung dauerhaft diskriminiert. Die Formen sind nach Bildung
unterschiedlich und doch gleich: "Der Akademiker im ewigen Projekt,
der Arbeiter im Niedriglohnsektor, die Zugewanderte, die im Haushalt
putzt".
"Schnell hinein und umso schwerer wieder heraus"
Einen weiteren Mythos entlarvt Dörre in seinen empirischen Studien:
Prekäre Beschäftigung ist "kein Sprungbrett in den sog. ersten
Arbeitsmarkt". Nur 12% steigen in bessere Arbeitsverhältnisse um.
"Man fällt schnell hinein und kommt umso schwerer wieder heraus". Es
entstehen vielmehr Drehtüreffekte, "zirkulare Mobilität" wie Dörre es
nennt, vom schlechtem Job zum schlechtem Job.
Hartz IV hat keine neue Arbeit geschaffen. Das Arbeitsvolumen
bezahlter Arbeit ist in Deutschland gesunken. Dieser Rückgang ist
aber nicht gleich verteilt. Ein sinkendes Arbeitsvolumen wird durch
atypische Beschäftigungsverhältnisse auf immer mehr Schultern
verbreitert - Teilzeitbeschäftigung, Geringfügigkeit, Leiharbeit.
Zehn bis 15 Prozent der im globalen Norden lebenden Menschen werden
somit aus dem Umfeld halbwegs gesicherter Erwerbsarbeit
ausgeschlossen.
Schwelle der Respektabilität gesenkt / "Le Havre"
Perspektivenwechsel
Dörre weist auf ein zentrales Problem in: "Wer rund um Hartz IV
verdient, ist gesellschaftlich nicht mehr respektiert". Prekarität
hat "die Schwelle der Respektabilität verändert" und "den Druck auf
die Leute erhöht". Hartz IV ist die Verschiebung der Schwelle der
Respektabilität nach unten. Die Betroffenen werden gesellschaftlich
missachtet.
"Hartz IV ist wie ein Hamsterrad, das Leute unterhalb der Schwelle
der Respektabilität hält". Dörre zitiert aus seinen Befragungen. Die
Prekaritäts-Logik "verlangt, jene qualitativen Ansprüche an Arbeit
und Leben aufzugeben, die besonderes Engagement motivieren. Das
Leitbild von Hartz IV klagt etwas ein, was in der Praxis zertrümmert
wird: Eigenverantwortung und Initiative", so Dörre.
Dörre zitiert am Ende den Film "Le Havre" des Regisseurs Aki
Kaurismäki als ein Gegenbild zur Stigmatisierung und Missachtung der
"Unterklasse". Hier treten Armutsbetroffene und Prekarisierte mit
"Eigenschaften auf, die ihnen sonst beständig abgesprochen werden":
solidarisch, findig, klug, strategisch, sorgend und
verantwortungsvoll. "Wir brauchen eine andere Perspektive", so Dörre
abschließend.
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