• 17.11.2016, 17:32:21
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Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures beim Staatsakt "Geste der Verantwortung"

Bures: Staatsakt kann und soll keinen Schlussstrich unter offene Diskussionen und unter die Aufarbeitung setzen

Utl.: Bures: Staatsakt kann und soll keinen Schlussstrich unter
offene Diskussionen und unter die Aufarbeitung setzen =

Wien (PK) - Auf Initiative von Nationalratspräsidentin Doris Bures
findet heute, am 17. November 2016, ein Staatsakt im Parlament statt.
Das offizielle Österreich und die Kirche wollen mit dieser "Geste der
Verantwortung" zum Ausdruck bringen, dass die Republik das unfassbare
Leid von ehemaligen Heimkindern, die in der Zweiten Republik schweres
Unrecht erlitten haben, mitsamt seiner lebenslangen Konsequenzen
anerkennt und Lehren daraus gezogen hat. Republik und Kirche kommen
damit einer langjährigen Forderung der Betroffenen nach.

Die Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures im Wortlaut:

- Es gilt das gesprochene Wort -

Manchmal sucht man nach Worten, aber man findet nur Tränen. Diese
Sprachlosigkeit müssen wir heute überwinden, um zu benennen, was
tausende junge Menschen in unserer Obhut erleiden mussten. Über
Jahrzehnte hinweg, inmitten unserer Gesellschaft, inmitten unserer
Republik.

Es waren Kinder. Kinder die nicht auf der Sonnenseite ins Leben
starten konnten. Sie wurden aus ihren Familien gerissen und fanden
sich in Heimen der öffentlichen Hand oder der Kirche wieder.

Dort hätten sie - wie alle Kinder - Fürsorge und Liebe, Schutz und
Geborgenheit gebraucht. Aber sie haben Gewalt und Missbrauch,
Demütigung, Gleichgültigkeit, Kälte und Einsamkeit erfahren. Hilfe
wurde ihnen nur selten zuteil, die Kontrolle versagte, das kollektive
Wegschauen hatte System.

Vielen Kindern wurden tiefste körperliche und seelische Wunden
geschlagen, sie wurden ihrer Würde beraubt. Und vielen wurde nicht
nur die Kindheit genommen, sondern auch die Chance auf ein
unbeschwertes und selbstbestimmtes Leben. Denn frühe Jahre in
Dunkelheit werfen oftmals einen lebenslangen Schatten.

Die Kinder von damals wurden, auch als sie erwachsen waren, lange
Zeit allein gelassen. Viele konnten nicht über die Zeit im Heim oder
der Pflegefamilie sprechen und die, die die Kraft fanden, sind lange
nicht gehört worden.

Leugnen, Verdrängen, Vergessen - das waren die Bausteine der hohen
Mauer, die unsere Gesellschaft vor diesen Menschen errichtet hat.
Erst vor wenigen Jahren hat diese Mauer Risse bekommen. Das ist vor
allem das Verdienst jener Frauen und Männer, die über das Erlebte
gesprochen und hartnäckig dafür gekämpft haben, dass ihnen geglaubt
wird.

Unsere Gedanken sind heute aber auch bei jenen vielen Menschen, die
das Erlittene - Ihre Wunden und Narben - im Verborgenen tragen.
Menschen, die noch nie darüber sprechen konnten und es vielleicht
auch nie werden. Und unsere Gedanken sind auch bei jenen, die an
ihren Wunden und Narben zerbrochen sind, die die Last ihres Lebens
nicht mehr tragen konnten.

In den vergangenen Jahren haben sich Kommissionen der Länder und der
Kirche, aber auch WissenschaftlerInnen und ExpertInnen
unterschiedlicher Disziplinen mit der systematischen Gewalt in den
Kinderheimen auseinandergesetzt.

Diese ernsthaften Bemühungen um die schwierige Aufarbeitung des
Geschehenen verdienen Anerkennung. Eine Reihe von Berichten bietet
heute die unverzichtbare Basis für weitere Forschungsarbeit: auch
über die Täter im Gewaltsystem. Denn im Sinne der Prävention müssen
wir auch wissen, warum aus betreuenden Menschen sadistische
Unmenschen wurden. Nicht außer Acht zu lassen ist dabei die im
Nachkriegsösterreich fortwirkende NS-Ideologie. Sie hat den Wert des
menschlichen Lebens nachhaltig relativiert.

Stellvertretend für alle Frauen und Männer, die dieses Leid ertragen
mussten, heiße ich Sie im Parlament willkommen. Ich bedanke mich
sehr, dass Sie hier sind, obwohl Ihnen das wahrscheinlich sehr viel
Kraft abverlangt.

Dieser Staatsakt ist eine Geste, eine Geste der Verantwortung. Er
kann und soll keinen Schlussstrich unter offene Diskussionen und
unter die Aufarbeitung setzen. Es geht darum, dass Staat und Kirche
gemeinsam das Unrecht benennen, anerkennen und ihre Schuld
eingestehen.

Ich weiß, dass nicht entschuldbar ist, was Ihnen in jungen Jahren
widerfahren ist. Ich weiß, dass nichts das Geschehene ungeschehen
machen kann. Was Ihnen widerfahren ist, ist eine Schande für unser
Land. Ich stehe hier - und schäme mich dafür.

Auch heute sind viele Menschen in unserer Gesellschaft auf Hilfe und
Obhut in Heimen angewiesen: Menschen mit Behinderungen, Kranke und
immer mehr alte, pflegebedürftige Frauen und Männer. Vieles, sehr
vieles, hat sich zum Besseren verändert. Aber wir müssen dennoch
stets wachsam sein. Denn die Würde von Menschen ist dort besonders
leicht verletzbar, wo Abhängigkeit besteht.

Es liegt leider nicht in unserer Macht, Missbrauch und Gewalt durch
einzelne Täter für immer zu verhindern. Was aber in unserer Macht und
in unser aller Verantwortung liegt, ist, zu verhindern, dass
Missbrauch und Gewalt - wie einst - still geduldet, systematisch
vertuscht und kollektiv geleugnet werden. Das Versagen darf sich
nicht wiederholen. Nicht heute, nicht morgen - nie wieder! (Schluss)
red

HINWEIS: Fotos von diesem Staatsakt finden Sie auf der Website des
Parlaments unter www.parlament.gv.at/SERV/FOTO/ARCHIV

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