- 09.06.2016, 12:48:20
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Anwälte in der Türkei: Bis zu 22 Jahre Haft wegen Ausübung des Berufs

Wien (OTS) - Das Anti-Terror-Gesetz dient der türkischen Regierung
als wichtiges Repressionsinstrument, um unliebsame Kritiker zu
kriminalisieren. Neben Journalisten und Künstlern sind auch Anwälte
ein beliebtes Ziel. In zwei derzeit laufenden Prozessen droht
Anwälten, die „Feinde“ der Regierung vertreten und ihre Mandanten im
Gefängnis besuchten, bis zu 22 Jahre Haft. Ein weiteres Verfahren
gegen Anwälte beginnt am 22. Juni in Istanbul.
Im Juli 2015 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
den Friedensprozess mit der PKK für gescheitert. Nach rund
zweieinhalbjährigen Verhandlungen entflammte der Kurdenkonflikt damit
neu. Besonders stark betroffen ist die südosttürkische Stadt
Diyarbakir, deren Bewohner überwiegend kurdischer Abstammung sind.
Feuergefechte und Ausgangssperren bestimmen den Alltag.
Medien, Anwälten, NGOs, unabhängigen Beobachtern und sogar Ärzten
wird der Zugang zu den umkämpften Gebieten weitgehend untersagt. Den
Journalisten, die es dennoch versuchen, wird das Equipment abgenommen
und ihre Bilder werden gelöscht. Zudem wurden rund 90 News-Portale
gesperrt, kurdische TV-Sender vom Satelliten genommen, Reporter
zusammengeschlagen oder inhaftiert. Viele türkische Medien gehen aus
Angst vor Repressionen zur Selbstzensur über.
„Informationslücken mit System“
„Diese Informationslücken haben eindeutig System. Durch das
News-Embargo sind keine verlässlichen Angaben über Vorfälle,
Verletzte oder Todesopfer möglich. Die türkischen Medien berichten
sehr wenig und wenn, dann sehr einseitig. Den ausländischen
Journalisten wird es durch fragwürdige Akkreditierungsbestimmungen
sehr schwierig gemacht, objektiv und gehaltvoll aus den
Krisengebieten zu berichten“, sagt Prof. Michael Enzinger, Präsident
der Wiener Rechtsanwaltskammer und ergänzt weiter: „Dies stellt von
Seiten der türkischen Regierung eine klare Verletzung wichtiger
Grundrechte wie Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit dar.“
Vorwand „Unterstützung einer terroristischen Organisation“
Derzeit laufen rund 2.000 Verfahren gegen Künstler, Journalisten,
Anwälte, Intellektuelle, aber auch Privatpersonen. Als Begründungen
für Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen werden häufig
„Unterstützung einer terroristischen Organisation“, „Spionage“ oder
„Beleidigung des Präsidenten“ genannt.
KCK- und CHD-Verfahren: Anklage für Berufsausübung
Neben Journalisten sind auch Anwälte ein forciertes Ziel von
Repressions-Maßnahmen der türkischen Regierung, wie zwei
beunruhigende Prozess-Beispiele zeigen. Im KCK-Verfahren sind 46
türkische und kurdische Anwälte angeklagt, im CHD-Verfahren – die CHD
ist eine Anwaltsvereingung, die Missstände aufdeckt und sich für
Menschen einsetzt, die aus politischen Gründen verhaftet wurden – 22.
Ihnen wird die Ausübung ihrer anwaltlichen Pflicht zur Last gelegt,
die Verteidigung von Mitgliedern terroristischer Organisationen und
der Besuch ihrer inhaftierten Mandanten. In der Logik der Regierung
macht sie das selbst zu Mitgliedern terroristischer Organisationen.
Die Anwälte werden also lediglich für die Ausübung ihres Berufes
angeklagt.
Die Verfahren laufen bereits seit Jahren, Termine werden lediglich im
Abstand von mehreren Monaten abgehalten, die Angeklagten erhalten nur
teilweise Akteneinsicht. Der Wechsel von einem Sondergericht zum
Ordentlichen Strafgericht für schwere Straftaten in Istanbul kostete
ebenfalls viel Verfahrenszeit. Im KCK-Verfahren verbrachten
Angeklagte bis zu 28 Monate in Untersuchungshaft, im CHD-Verfahren
14, obwohl es keine Anhaltspunkte für Flucht- und Verdunklungsgefahr
gab. Es drohen Haftstrafen bis zu 22 Jahre. Internationale Beobachter
fordern aufgrund der vielen Mängel die sofortige Einstellung der
Verfahren.
Anti-Terror-Gesetz als wichtiges Repressionsinstrument
„Hier werden Terrorvorwürfe missbraucht, um unliebsame Oppositionelle
zu kriminalisieren und Anwälte, die die sogenannten ‚Feinde‘ der
Regierung vertreten, einzuschüchtern. Die Rechtsvertreter machen
einfach nur ihre Arbeit und das wird ihnen zum Vorwurf gemacht.
Unterhaltungen zwischen Anwalt und Mandant werden verbotenerweise
abgehört und als Beweismittel verwendet, viele Dokumente sind der
Verteidigung nicht zugänglich. Im Grunde werden so gut wie alle
Vorschriften zur Wahrung der prozessualen Rechte der Angeklagten
missachtet und sowohl gegen die europäische Menschenrechtskonvention
als auch gegen türkisches Recht verstoßen“, sagt Prozess-Beobachter
Mag. Clemens Lahner.
„Rechtsstaat wird in seinen Grundfesten erschüttert!“
Im März 2016 wurden schließlich fünf Verteidiger der KCK-Anwälte
verhaftet und erst Tage später wieder freigelassen. Während dieser
Zeit konnten sie einen der ohnehin spärlichen Prozesstermine nicht
wahrnehmen. Das Strafverfahren gegen sie beginnt am 22. Juni in
Istanbul. „Zusammengefasst verdichtet sich der Eindruck, dass die
AKP-Regierung die Justiz dazu missbraucht, um gegen jegliche Kritik
vorzugehen und ihre Gegner mundtot zu machen“, so Lahner. „Besonders
schwer wiegt die strafrechtliche Verfolgung kritischer Anwälte, weil
die Untersuchungshaft und die angedrohten langjährigen Haftstrafen
potentiell geeignet sind, die gesamte türkische Anwaltschaft
einzuschüchtern und davon abzuhalten, Mandate zu übernehmen, welche
sie Repressalien seitens der AKP-Regierung aussetzen können. Dadurch
wird der Rechtsstaat in seinen Grundfesten erschüttert.“
Dass die Anwälte in der Türkei nicht nur mit Behinderung der Arbeit
und Verhaftung bedroht, sondern auch eine Gefahr für Leib und Leben
ist, zeigt die Ermordung Tahir Elcis Ende November 2015. Der
Präsident der Anwaltskammer Diyarbakir wurde auf offener Straße
erschossen, während er einen Aufruf zur Gewaltfreiheit verlas. Die
Ermittlungen verliefen bislang ohne Ergebnis. „Aufgrund von
Unklarheiten im Polizeibericht sollte das Verfahren neu aufgerollt
werden“, so Enzinger. „Wir fordern eine Untersuchung der Todesursache
von einer internationalen und unabhängigen Instanz.“
Über die RAK Wien
Die Rechtsanwaltskammer (RAK) Wien ist die Standesvertretung der in
Wien niedergelassenen Rechtsanwälte. Aufgabe der RAK Wien ist neben
der Vertretung der Interessen der mehr als 4000 Mitglieder auch die
Begutachtung von Gesetzen und das Erstellen von Gutachten sowie die
Überwachung der Einhaltung der Berufspflichten im Wege des
Disziplinarrechts. Dachorganisation der neun Rechtsanwaltskammern ist
der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK).
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