• 17.06.2014, 10:15:31
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BELVEDERE: Die andere Seite - Spiegel und Spiegelungen in der zeitgenössischen Kunst

Wien (OTS) - Mit der Ausstellung "Die andere Seite - Spiegel und
Spiegelungen in der zeitgenössischen Kunst" beleuchtet das Belvedere
unterschiedliche ästhetische und symbolische Aspekte der
reflektierenden Fläche. Der Spiegel hat eine große kunst- und
kulturgeschichtliche Bedeutung, aber auch eine jahrhundertealte
Tradition als magisch-symbolisches Objekt. In manchen antiken
Kulturen galt er als Abbild der Seele, in der Kunst des europäischen
Mittelalters stand er sowohl für Keuschheit, Vergänglichkeit,
Sinnenfreude als auch für Putzsucht, im Barockzeitalter wiederum war
er Symbol der Vanitas - der Vergänglichkeit allen menschlichen
Strebens. Der Spiegel ist ein Medium der Selbstwahrnehmung und der
narzisstischen Selbstverdoppelung, zugleich aber auch eine Pforte,
die in ein Paralleluniversum oder eine andere Seinsmodalität führt -
Alice hinter den Spiegeln als Möglichkeit der
Bewusstseinserweiterung. Die Beliebtheit des Spiegels in der
zeitgenössischen Kunst hat mit dessen vielfältigen und durchaus auch
paradoxen und widersprüchlichen metaphorischen und
wahrnehmungspsychologischen Bedeutungen zu tun, wie die von Edelbert
Köb und Thomas Mießgang kuratierte Schau in der Orangerie, in den
Prunkräumen (Groteskensaal, Marmorgalerie und Goldkabinett) und im
Kammergarten zeigt.

"Die Ausstellung Die andere Seite ist der Versuch, die Fülle an
künstlerischen Spiegelarbeiten, die seit den 1960er-Jahren entstanden
sind, existenzphilosophisch, psychologisch und soziologisch wie
politisch einzuordnen und zu zeigen, dass der Spiegel auch in einer
Epoche der vervielfachten medialen Oberflächen noch ein wesentliches
Medium der Selbsterkenntnis und der Weltdeutung ist", erläutert Agnes
Husslein-Arco, Direktorin des Belvedere.

Die Bedeutung des Spiegels ist in vielen philosophischen und
psychoanalytischen Texten herausgearbeitet worden. Sigmund Freud
leitet seine Theorie der Melancholie vom Spiegel des Narziss ab,
Jean-Paul Sartre sieht die Entstehung des Selbstbewusstseins im Blick
des Anderen begründet. Am weitreichendsten, vor allem im Hinblick auf
Kunstproduktion und Kunsttheorie, war jedoch Jacques Lacans berühmter
Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion. Der
französische Analytiker und Philosoph Lacan beschreibt darin, dass
sich die bis dahin disparate Identität eines Kleinkindes über die
zentrierende Kraft des Spiegelbildes konstituiert, indem das Kind
sein eigenes Bild freudvoll erkennt. Das Andere im Spiegel ermöglicht
die Wahrnehmung eines Ichs, und gerade diese Spaltung zwischen Ich
und dem Anderen wird zur Ursache eines identifikatorischen Prozesses.
"Der Mensch hat immer versucht, sich zu spalten, um sich zu
erkennen", schreibt Michelangelo Pistoletto in Die berühmten letzten
Worte . Das Wiedererkennen des eigenen Bildes im stehenden Wasser und
im Spiegel ist vielleicht eine der ersten wirklichen Halluzinationen,
denen der Mensch begegnet ist.

Darüber hinaus wirkt der Spiegel als Membran zwischen der realen und
einer virtuellen Welt und bringt in einer zunehmend säkularen Zeit
die Ebene der Transzendenz und der Magie ins Spiel, ohne die
Religion zu bemühen. Liz Larners geisterhaft spiegelnde Reflector
Wizards stehen in der Ausstellung exemplarisch dafür. Schließlich ist
der Spiegel auch ein Medium der narzisstischen Selbstüberhöhung, die
in unserer Zeit der Castingshows, Modelwettbewerbe und oftmals
inhaltsleeren TV-Talkrunden zu einer gesellschaftlichen Leitidee
wurde - gewissermaßen eine Neuauflage des barocken Vanitas-Motivs als
Vanity-Projekt. Davon erzählen in der Ausstellung die aus den
hedonistischen Milieus der Selbstverschwendung geliehenen Discokugeln
von John Armleder ebenso wie die mit Spiegelelementen dekorierten
Supermodels von Pierre Bismuth. Reflektierende Flächen sind in der
zeitgenössischen Kunst somit nicht nur ästhetische Artefakte, sondern
Instrumente der gesellschaftlichen Durchdringung und der
Welterkenntnis, die einen Satz beglaubigen, den Joseph Beuys 1972
formuliert hat: Das Gehirn sei ein Reflexionsorgan so hart und blank
wie ein Spiegel.

Die Kuratoren Edelbert Köb und Thomas Mießgang versuchen mit
exemplarischen Spiegelwerken die gesamte Spannweite des Themas
einerseits anzureißen, andererseits zu vertiefen - in der Orangerie,
in vier barocken Prunkräumen und im Verbindungstrakt. Auf die starke
Vorgabe der historischen Räume reagiert das kuratorische Konzept mit
In-situ-Arbeiten und auf den White Cube der Orangerie mit einer
dreiteiligen thematischen Auffächerung. "Im Zentrum der Ausstellung
steht zwar die Untersuchung der ästhetischen und sozialpolitischen
Relevanz unterschiedlicher symbolischer Aufladungen des Spiegels, zum
anderen wird aber auch auf die zahlreichen formalistischen
Hervorbringungen heutiger Kunst hingewiesen, die sich vor allem an
die Wahrnehmung wenden. Diese spielen entweder mit dem Zauber von
Illusion und Täuschung durch Reflexion, Brechung, Vervielfachung und
Zerrung des Raumes oder regen zur sinnlichen Erfahrung mit
Materialien und Prozessen an", erläutert Edelbert Köb.

Der Spiegel in der Kunst des 20. Jahrhunderts

Der Spiegel war schon ab dem Mittelalter und vor allem im Barock ein
Darstellungsgegenstand der Kunst. Doch erst im 20. Jahrhundert
emanzipierte er sich vom Objekt zum Material sowie zum
philosophischen Zentrum der Kunst selbst. Er wird sowohl Trägermedium
als auch Kristallisationspunkt theoretischer und psychologischer
Auseinandersetzungen. Heimo Zobernigs zerbrochene und blinde Spiegel
nehmen ihm die Illusionsfunktion und machen ihn einfach zu einem
künstlerischen Material, während Michelangelo Pistolettos Mixed-Media
Arbeiten reale Spiegel mit Malerei oder Skulptur verknüpfen und so
den jeweiligen Betrachter aktuell in den Bildinhalt einbeziehen. Die
Spiegelikonografie erhielt nicht zuletzt durch Fotografie, Video und
Film neue mediale Aufladungen. So unterziehen beispielsweise Cindy
Shermans Untitled Film Stills die Konstruktion von eskapistischen
Scheinuniversen durch die Traumfabrik Hollywood einer ironischen und
dekonstruktiven Begutachtung. Jean Cocteau ließ in seinen Filmen Le
Sang d'un Poéte und Orphée Menschen reflektierende Flächen
durchqueren und sprach vom Spiegel als jener Pforte, "durch die der
Tod kommt und geht".

Douglas Gordon dagegen thematisiert den Spiegel im Sinne Jacques
Lacans als Bildner der Ichkonstruktion. Er loopt die berühmte Szene
aus Martin Scorseses Film Taxi Driver, in der Robert de Niro im
Selbstgespräch ein Alter Ego als knallharter Killer aufbaut.
"Vor dem Spiegel versammeln sich Geschichte, Gegenwart und Zukunft,
um in der Reflexion neue Seinsperspektiven zu enthüllen. Der Spiegel
ist in der Ästhetik seit den 1960er-Jahren nicht nur ein Material,
das bearbeitet werden kann, sondern ein Medium demiurgischer
Weltdeutung. Die Kunst nutzt das Zeit und Raum neu definierende
Paradigma, um eine neue Epoche aus dem Staub der Welt aufzuwirbeln.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wohin wirst du uns entführen? Was
erwartet uns hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen?", so
Kurator Thomas Mießgang.
Die Ausstellung zeigt künstlerische Positionen, die die Bedeutung des
Spiegels als Motiv, Metapher und Artefakt in der zeitgenössischen
Kunst behandeln.

Die Ausstellung "Die andere Seite - Spiegel und Spiegelungen in der
zeitgenössischen Kunst" ist von 18. Juni bis 12. Oktober 2014 in der
Orangerie im Unteren Belvedere zu sehen.

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