ÖRAK legt 40. Wahrnehmungsbericht vor: Mängel in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung; Rechtsanwälte präsentieren Resolution mit zahlreichen Reformvorschlägen.
Utl.: ÖRAK legt 40. Wahrnehmungsbericht vor: Mängel in Gesetzgebung,
Rechtsprechung und Verwaltung; Rechtsanwälte präsentieren
Resolution mit zahlreichen Reformvorschlägen. =
Wien (OTS) - Zum bereits 40. Mal legt der Österreichische
Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) seinen jährlichen Wahrnehmungsbericht
vor. Er folgt damit dem gesetzlichen Auftrag, die österreichische
Rechtspflege und Verwaltung zu beobachten und signifikante
Wahrnehmungen zu dokumentieren.
Die "Fieberkurve des Rechtsstaates"
"Unser Wahrnehmungsbericht zeichnet eine Fieberkurve des
Rechtsstaates. Nur wenn man regelmäßig die Symptome aufzeigt, können
rechtzeitig und wirkungsvoll Therapien verordnet werden", so
ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff anlässlich der heutigen Präsentation
des Berichtes. "Wir Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte stehen als
vom Staat unabhängige, rechtskundige Berufsgruppe dafür ein, unser
Fachwissen, aber auch unser Engagement und unsere Begeisterung für
Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Menschlichkeit in den Dienst der
Bürgerinnen und Bürger unserer Republik zu stellen", so Wolff. Daher
entspreche es dem eigenen Selbstverständnis, tatkräftig am Schutz und
Ausbau des Rechtsstaates mitzuwirken.
In manchen Bereichen weist die Justiz individuelle aber auch
strukturelle Schwächen auf. Der Wahrnehmungsbericht dokumentiert
diese. "Die Justiz hat blind zu sein im Sinne von unabhängig und
unbeeinflusst von allen Faktoren von außen, und nicht blind im Sinne
von uneinsichtig. Kritik und daran anknüpfende
Verbesserungsvorschläge sind daher wesentliche Faktoren, um hohe
rechtsstaatliche Standards auch in Zukunft gewährleisten zu können",
erklärt Wolff.
Rechtsanwälte warnen vor drohender Zwei-Klassen-Justiz
In der Rechtspflege selbst lässt sich durch Zusammenschau der
diesjährigen Praxisfälle eine gefährliche Tendenz erkennen. Es zeigt
sich, dass gerade bei Verfahrenshilfefällen seitens der
Justizbehörden oftmals sehr unkooperativ, bürokratisch und
bürgerfeindlich vorgegangen wird. Dies beginnt beim Bestellvorgang,
setzt sich über Probleme bei der Aktenbeschaffung fort und gipfelt
bei der kurzfristigen Anberaumung von Verhandlungen unter
Nicht-Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Vorbereitungsfrist
und dem Ignorieren von Vertagungsbitten. Die bereits mehrmals
kritisierte Verlegung von Häftlingen in eine andere Justizanstalt,
ohne den Verteidiger davon in Kenntnis zu setzen, ist inakzeptabel.
Sie erschwert dem bestellten Verteidiger den Kontakt zu seinem
Mandanten und beschneidet das Recht auf ein faires Verfahren. "Gerade
jenen Menschen, die ohnehin unter schwierigsten Umständen den
Rechtsweg beschreiten, auch noch behördliche Steine in den Weg zu
rollen, kann in eine Zwei-Klassen-Justiz münden", warnt Wolff vor
einer gefährlichen Entwicklung. Hier sei höchste Vorsicht geboten.
Inakzeptable Verzögerungen von Verfahren
Auch in diesem Jahr enthält der Bericht Fälle, in denen es zu
inakzeptablen Verfahrensverzögerungen gekommen ist. In einem Fall war
das Gericht sogar binnen fünf Jahren nicht in der Lage, eine
Entscheidung in einer Obsorgesache zu treffen. Eine Entscheidung ist
mittlerweile nicht mehr möglich, da die betroffenen Kinder inzwischen
volljährig geworden sind. Auch die verspätete Erstattung von
Sacherverständigen-Gutachten verursacht immer wieder Verzögerungen,
die von den Gerichten nicht ausreichend sanktioniert werden.
Als Ursache für viele Verzögerungen ist vor allem Personalmangel
auszumachen. Unbesetzte oder nicht nachbesetzte Richterstellen,
unterbesetzte Schreibabteilungen, Richter, deren Kapazitäten durch
Großverfahren erschöpft sind, Gerichtsschließungen - alles Faktoren,
die sich zwangsläufig negativ auf den Justizbetrieb auswirken. Zudem
verliere der Richterberuf durch die Verkürzung der Gerichtspraxis und
die schlechte Entlohnung der Rechtspraktikanten an Attraktivität, so
Wolff. Es bestehe daher die Gefahr, dass die für den Justizbetrieb
notwendigen Fachkräfte schon bald nicht mehr zur Verfügung stünden,
warnt der ÖRAK-Präsident.
Großer politischer Reformbedarf
Großer Reformbedarf ist insbesondere im Bereich des Strafverfahrens
festzustellen. Gleiches gilt für das Sachwalterrecht, die
Einschränkung des Zugangs zum Recht durch ungebührlich hohe Gebühren
und die hierzulande gepflogene Gesetzgebungspraxis, die immer stärker
von der Regierung und nicht vom Parlament dominiert wird. Aber auch
das Instrument des parlamentarischen Untersuchungsausschusses sollte
aus Sicht der Rechtsanwälte auf völlig neue Beine gestellt werden.
Als Minderheitenrecht mit einem Verfahrensrecht, das den
verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere jenen der
Europäischen Menschenrechtskonvention, gerecht wird.
Rechtsanwälte fordern konkrete Verbesserungsmaßnahmen
"Wo Menschen wirken, geschehen Fehler. Wer einen Fehler gemacht hat
und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten", so Wolff. In manchen
Bereichen konnten trotz wiederholter Kritik bislang jedoch keine
Verbesserungen festgestellt werden, weshalb sich die Rechtsanwälte in
diesem Jahr insbesondere an die Politik wenden. "Die Politik ist
gefordert, Maßnahmen zur Behebung der aufgezeigten Mängel zu treffen.
Als rechtspolitische Arbeitsgrundlage für die neue Legislaturperiode
hat die österreichische Rechtsanwaltschaft einen Katalog von
Verbesserungsvorschlägen in Form einer Resolution verabschiedet",
erklärt Wolff. Es sei der Anspruch der Rechtsanwälte, spürbar zu
machen, dass in Österreich die Behörden den Bürgern dienen und nicht
umgekehrt. Dies gelte für jede Frau und jeden Mann, unabhängig von
der finanziellen Leistungsfähigkeit. "Der Rechtsweg ist für jeden
Bürger und jede Bürgerin gleichermaßen begehbar zu halten", so Wolff.
Die Resolution der österreichischen Rechtsanwaltschaft ist das
Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit Beobachtungen aus
dem Bereich Gesetzgebung und zahlreichen Praxisfällen. Sie wurde von
den Delegierten zum Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK)
einstimmig gefasst und richtet sich an die gewählten Abgeordneten zum
Nationalrat sowie die Mitglieder der neuen Bundesregierung. "Unser
Ziel ist es, gemeinsam den Rechtsstaat nachhaltig zu sichern und
auszubauen", so Wolff.
Resolution der österreichischen Rechtsanwälte im Wortlaut
"Die Vertreter aller neun Rechtsanwaltskammern Österreichs fordern
den neu gewählten Nationalrat und die Bundesregierung auf, in der
kommenden Gesetzgebungsperiode der Justizpolitik jenen Stellenwert
zukommen zu lassen, der ihr in einem demokratischen Rechtsstaat
gebührt. Dringend anstehende Reformvorhaben sind zügig unter
Einbindung der Betroffenen, insbesondere der Rechtsanwaltschaft,
umzusetzen. Die österreichische Rechtsanwaltschaft fordert
insbesondere:
* Die Ausdehnung des rechtsanwaltlichen Geheimnisschutzes auf die
gesamte anwaltliche Korrespondenz, gleichgültig wo sich diese
befindet und Verankerung der rechtsanwaltlichen Verschwiegenheit in
der Verfassung.
* Eine Sicherung des Zugangs zum Recht. Die Gerichtsgebühren sind zu
einer echten Hürde geworden. Beseitigung des Selbstverständnisses der
Justiz als Großunternehmen, Senkung der Gerichtsgebühren und
Deckelung bei hohen Streitwerten.
* Eine Förderung der Rechtssicherheit durch Evaluierung des
Gebührengesetzes. Es geht nicht an, dass schriftliche Vereinbarungen
unterbleiben, nur weil mit hohen Rechtsgeschäftsgebühren gerechnet
werden muss. Eheverträge, außergerichtliche Vergleiche,
Adoptionsverträge, Bestandverträge uvm sind mit ungebührlich hohen
Gebühren verbunden.
* Ein den gesellschaftlichen Veränderungen angepasstes
Pflichtteilsrecht mit der Zielsetzung, insbesondere die
Überlebensfähigkeit von Unternehmen zu sichern.
* Den Schutz und Ausbau der Grundrechte durch Evaluierung der seit
dem 11. September 2001 in Österreich erfolgten Verschärfungen im
Bereich Überwachung und Terrorismusbekämpfung durch eine unabhängige
Expertenkommission und Umsetzung von deren Empfehlungen.
* Eine Reform des Strafprozessrechtes im Ermittlungsverfahren.
- Im Sinne der Entschließung des Nationalrates vom 5.7.2013 (333
E/XXIV.GP) ist ein effizienter Rechtsschutz durch Ausbau der
Instrumente des Einspruchs wegen Rechtsverletzung und des Antrags auf
Einstellung sowie eine effektive höchstgerichtliche
Grundrechtskontrolle zu gewährleisten.
- Sicherstellung einer effektiven Verteidigung ab Festnahme des
Beschuldigten durch Ausbau des rechtsanwaltlichen Journaldienstes
sowie Steigerung seiner Attraktivität und Inanspruchnahme im Rahmen
der Umsetzung der Richtlinie über das Recht auf Rechtsbeistand in
Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme.
- Verpflichtende Beiziehung eines Rechtsanwaltes bei der
kontradiktorischen Vernehmung.
* Eine Reform des strafrechtlichen Haupt- und Rechtsmittelverfahrens.
- Stärkung der Rechte des Angeklagten und der Opfer durch die
Schaffung der Möglichkeit der Beiziehung von Privatgutachtern,
Zulässigkeit der Verlesung dieser Privatgutachten und Möglichkeit der
Einvernahme des Privatgutachters. Ausschluss jedes im
Ermittlungsverfahren zugezogenen Sachverständigen in der
Hauptverhandlung.
- Schaffung einer funktionierenden Überprüfungsmöglichkeit der
Beweiswürdigung von Schöffen- und Geschworenengerichten.
- Wiedereinführung des zweiten Berufsrichters in Schöffenverfahren.
- Vereinfachung des Rechtsmittelrechtes durch Abschaffung von mit der
Schwere der Tat inadäquaten Formalismen.
- Einführung eines durchgehenden elektronischen Strafaktes und
Möglichkeit der elektronischen Einsichtnahme.
* Die Einführung einer sachgerechten Regelung des Ersatzes der
Verteidigungskosten bei Freispruch im Strafverfahren.
* Eine sachgerechte Neuregelung der Grunderwerbssteuer unter
Einbeziehung der Rechtsanwender.
* Die Rücknahme der Verkürzung der Gerichtspraxis von 9 auf 5 Monate.
* Die Wiedereinführung der verhandlungsfreien Zeit im Sinne der
Regelung vor der WGN 2002 und Ausdehnung auf das streitige
Außerstreitverfahren, insbesondere für den Erbrechtsstreit.
* Eine umfassende Reform des Sachwalterrechtes.
- Aufhebung der Zwangsverpflichtung, wonach Rechtsanwälte und Notare
zumindest 5 Sachwalterschaften übernehmen müssen.
- Trennung von rechtlicher Beratung und Personenfürsorge abgesehen
von jenen Fällen, in denen die dafür erforderliche Infrastruktur
vorhanden ist.
- Barauslagenersatz auch bei vermögenslosen Betroffenen sowie eine
durchgängig angemessene Vergütung.
- Einführung eines Äußerungsrechtes von Angehörigen und
- Ausweitung der Angehörigenvertretung.
* Eine Verbesserung der derzeitigen Gesetzgebungspraxis durch
Einführung eines transparenteren Gesetzwerdungsverfahrens und
Schaffung verbindlicher "Good Governance"-Regelungen.
Die Forderungen der österreichischen Rechtsanwaltschaft verstehen
sich als exemplarisch. Die aufgegriffenen Themen sind von besonderer
Wichtigkeit.
Die österreichischen Rechtsanwälte sind gerne bereit, an der
Umsetzung dieser Themen mitzuwirken und stehen zur Erläuterung der
einzelnen Punkte jederzeit zur Verfügung. Die österreichischen
Rechtsanwälte werden wachsam beobachten, ob in der nächsten
Gesetzgebungsperiode der Rechtsstaatlichkeit ausreichendes Augenmerk
gewidmet wird."
Der 40. Wahrnehmungsbericht der österreichischen Rechtsanwälte ist
online unter www.rechtsanwaelte.at (Menüpunkt
Stellungnahmen/Wahrnehmungsbericht) abrufbar.
In Österreich gibt es 5900 Rechtsanwälte und 2000
Rechtsanwaltsanwärter. Rechtsanwälte sind bestausgebildete und
unabhängige Rechtsvertreter und -berater, die nur ihren Klienten
verpflichtet und verantwortlich sind. Primäre Aufgabe ist der Schutz,
die Verteidigung und die Durchsetzung der Rechte Einzelner. Dritten
gegenüber sind Rechtsanwälte zu absoluter Verschwiegenheit
verpflichtet, womit auch eine völlige Unabhängigkeit vom Staat
gewährleistet wird. Vertreten werden die Rechtsanwälte durch die
Rechtsanwaltskammern in den Bundesländern sowie durch die
Dachorganisation, den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK)
mit Sitz in Wien.
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | ORA