- 12.03.2013, 10:30:32
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Rede Bundespräsident Fischer beim Gedenkakt anläßlich 12.März 1938
Wien (OTS) - Rede des Bundespräsidenten
beim Gedenkakt zum 75. Jahrestag des 12. März 1938
im Großen Redoutensaal, Hofburg
Es gilt das gesprochene Wort!
Herr Bundeskanzler!
Frau Präsidentin des Nationalrates!
Geschätzte Mitglieder der österreichischen Bundesregierung und der
gesetzgebenden Körperschaften!
Meine Damen und Herren Botschafter!
Herr Vorsitzender der Landeshauptleutekonferenz!
Geschätzte Vertreter der Religionsgemeinschaften und der
Opferorganisationen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen und bedanke mich, dass
Sie die Einladung zu dieser gemeinsamen Gedenkstunde angenommen
haben.
*
"Als einen Hexensabbat des Pöbels" und "ein Begräbnis aller
menschlichen Würde" beschrieb der Schriftsteller Carl Zuckmayer als
Augenzeuge die Ereignisse in den Straßen Wiens am Abend des 11. März
1938, die sich am 12. März noch steigerten.
Was war geschehen?
Der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler hatte am 11. März 1938 der
österreichischen Staatsspitze ein auf wenige Stunden befristetes
Ultimatum gestellt, in dem unter anderem verlangt wurde, den
Nationalsozialisten Seyß-Inquart noch am gleichen Tag zum neuen
österreichischen Bundeskanzler zu ernennen und eine geplante
Volksabstimmung über ein selbständig bleibendes Österreich abzusagen.
Bundespräsident Miklas weigert sich zunächst - wie wir ja auch im
Film gesehen haben - die Forderungen des Ultimatums zu erfüllen, doch
Bundeskanzler Dr. Schuschnigg betrachtete seinen Rücktritt als die
einzige Chance, den Einmarsch deutscher Soldaten in Österreich und
damit den sogenannten Anschluss an Deutschland noch zu verhindern.
Mit den Worten "Wir weichen der Gewalt" verkündete er am 11. März
1938 um 19.47 Uhr in einer Radiorede seinen Rücktritt.
Die ungeheure Spannung dieser Tage und Stunden verwandelte sich in
kürzester Zeit in ungeheuren Jubel aber auch in Entsetzen.
In Wien und anderen Städten wehten noch am 11. März abends zahlreiche
Hakenkreuzfahnen, einige davon sogar am Gebäude der Polizeidirektion
am Wiener Schottenring, obwohl noch kein einziger deutscher Soldat
seinen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt hatte.
Lassen wir nochmals Zuckmayer zu Wort kommen. Er schreibt: Viele
Gesichter glichen verzerrten Fratzen. Die einen aus Angst, die
anderen in wildem, hasserfüllten Triumph. Es war ein Aufstand des
Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen
Rachsucht....
Hitler ließ sich durch die Erfüllung des Ultimatums jedenfalls nicht
bremsen.
In den Morgenstunden des 12. März 1938 überschritten deutsche
Soldaten die Grenze zu Österreich, marschierten Richtung Linz und
weiter nach Wien.
Überall trafen sie auf stürmischen Jubel und große Begeisterung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Zuseherinnen und Zuseher!
Der sogenannte Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland hatte zur
Folge, dass Österreich als selbständiger Staat von der Landkarte
verschwand, dass die österreichische Fahne durch die Hakenkreuzfahne
ersetzt wurde, dass wir bald darauf mit allen Konsequenzen in den
Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurden und dass auch Österreicher
massiv an Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt waren. All das
wurde zu Bestandteilen unserer Geschichte, die uns bis heute
schmerzvoll beschäftigen.
Dieser 12. März 1938 kam aber nicht aus heiterem Himmel. Er hatte
eine lange Vorgeschichte.
Mit voller Wucht setzte diese Vorgeschichte schon mit dem Ende des
Ersten Weltkrieges ein. Die Millionen Opfer dieses Krieges, die Angst
vor dem in Russland siegreichen Bolschewismus, die als schmachvolles
Diktat empfundenen Friedensverträge von Versailles und Saint Germain
und vor allem auch die dramatische wirtschaftliche und soziale Lage
schufen Verhältnisse, in denen die gemäßigten Parteien der Mitte (und
mit ihnen auch die Parlamentarische Demokratie) in Deutschland - aber
auch in Österreich - mit wachsender Geschwindigkeit Ansehen verloren,
während radikale Kräfte immer mehr Anhänger gewannen.
Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 wurde die NSDAP mit 37,4%
stimmenstärkste Partei im deutschen Reichstag.
6 Monate später, im Jänner 1933 wurde Adolf Hitler zum deutschen
Reichskanzler ernannt - vor allem auf Grund der Uneinigkeit und
Schwäche der gemäßigten Parteien, aber auch als Resultat einer
totalen Fehleinschätzung seiner tatsächlichen Absichten. Und er
machte sich sofort daran, Demokratie und Rechtsstaat gründlich zu
zerstören.
Auch in Österreich wurde die Chance versäumt, durch Bereitschaft zur
Zusammenarbeit ein starkes demokratisches Zentrum zu bilden.
Im März 1933, nur zwei Monate nach der Machtergreifung Hitlers in
Deutschland, wurde in Österreich / unter Bruch der Verfassung / die
These von der sogenannten Selbstausschaltung des Nationalrates von
der Regierung Dollfuß mit Polizeigewalt durchgesetzt und damit der
Parlamentarismus zu Grabe getragen.
Der Bürgerkrieg vom Februar 1934 verschärfte die Konflikte und die
Erbitterung in unserem ohnedies bereits zutiefst gespaltenen Land, wo
die Massenarbeitslosigkeit verzweifelte Menschen einem Schicksal ohne
Zukunftsperspektive aussetzte - und radikalisierte.
Die Nationalsozialisten drängten auch in Österreich an die Macht.
Ihr Putschversuch vom 25. Juli 1934, in dessen Verlauf Bundeskanzler
Dollfuß ermordet wurde, konnte zwar niedergeschlagen werden, aber
dennoch - oder gerade deshalb - richteten sich die Hoffnungen einer
rasch wachsenden Zahl von Österreicherinnen und Österreichern auf
Hitler-Deutschland.
Hitler hatte in der Zwischenzeit seine Diktatur gefestigt.
Aber er ging noch viel weiter: Er machte den Antisemitismus zur
Staatsideologie, baute Deutschland zu einem Führerstaat um und
rüstete massiv für den Krieg.
Sein Hang zum Größenwahn trat immer deutlicher zu Tage.
Er versetzte Massen in hysterische Begeisterung, indem er ihren
Nationalstolz missbrauchte. / Er reduzierte die Arbeitslosigkeit
durch Aufrüstung für einen Krieg. / Er bediente tiefsitzende
Vorurteile wie Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. / Das alles
gestützt auf eine perfekte Propagandamaschinerie, die von Joseph
Goebbels aufgebaut und skrupellos gelenkt wurde.
"Ein Volk, ein Reich, ein Führer".
Da wollten auch sehr viele Österreicher und Österreicherinnen dabei
sein und schwenkten die Hakenkreuzfahnen im Taumel von falschen
Hoffnungen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Eines muss an dieser Stelle allerdings mit aller Deutlichkeit
angemerkt werden:
Es gab auch ein anderes Österreich.
Ich meine jene Menschen, die über die Ereignisse im März 1938
entsetzt waren, zu fliehen versuchten oder sich in die innere
Emigration zurückzogen. Manche setzten ihrem Leben ein Ende, andere
waren zum Widerstand bereit und entschlossen. Viele wurden
misshandelt und/oder verhaftet.
Sie wussten: Hitler bedeutet Krieg.
Heute wissen es alle - oder müssten es zumindest wissen - dass der
12. März 1938 ein Tag der Katastrophe war.
Und im Hinblick auf die jubelnden Massen und im Hinblick auf die von
der ersten Stunde an gedemütigten und entrechteten jüdischen
Bürgerinnen und Bürger war er auch ein Tag der Schande!
Diesem dramatischen, deprimierenden Tag, der uns bis heute
schmerzvoll beschäftigt, ist diese Gedenkstunde gewidmet.
Ich darf daher mit besonderem Respekt die Vertreter und
Vertreterinnen der Organisationen von Opfern des NS-Regimes und von
Gedenkinitiativen, aber auch Angehörige des Dokumentationsarchives
des österreichischen Widerstandes begrüßen, deren Verdienste ich
gerade heute würdigen möchte.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Menschen, die Sorge hatten, dass Hitler nicht nur Diktatur,
sondern auch Krieg bedeutet, haben Recht behalten.
Am 1. September 1939 marschierte die Deutsche Wehrmacht - in die das
Österreichische Bundesheer innerhalb von 24 Stunden nach dem
Anschluss durch ein Dekret Hitlers eingegliedert worden war - in
Polen ein und eröffnete damit den Zweiten Weltkrieg.
Und am 22. Juni 1941 startete die Deutsche Wehrmacht den Krieg gegen
die Sowjetunion. Zunächst mit unglaublichen Erfolgen an dieser und an
anderen Fronten. Aber dann begann sich das Kriegsglück zu wenden. Der
weitere Kriegsverlauf war immer mehr durch dramatische Niederlagen
der Deutschen Wehrmacht charakterisiert. Hunderttausende deutsche und
österreichische Familien bekamen Nachricht vom "Heldentod" engster
Angehöriger.
Die Wannsee-Konferenz vom 20. Jänner 1942 hatte die Grundlage zur
sogenannte "Endlösung der Judenfrage", also die Strategie zur
physischen Vernichtung der europäischen Juden geschaffen. Das
Resultat waren sechs Millionen ermordete Juden - Männer, Frauen und
Kinder.
Die Lebensbedingungen in Deutschland und Österreich verschlechterten
sich rapid. Die Diktatur wurde immer brutaler, um jeden Widerstand
niederzuhalten. Aber der Untergang des Deutschen Reiches rückte
unaufhaltsam näher.
Als sich Hitler und andere NS-Größen am 30. April 1945 durch
Selbstmord ihrer Verantwortung entzogen hatten und der Zweite
Weltkrieg in Europa am 8. Mai mit der totalen Niederlage des
Großdeutschen Reiches endete, war die Bilanz entsetzlich.
Alles in allem haben weltweit mehr als 60 Millionen Menschen -
Soldaten und Zivilisten - im Verlauf des Zweiten Weltkrieges ihr
Leben verloren.
Allein in Österreich lautet die - keineswegs vollständige - Bilanz
von Krieg und Diktatur wie folgt:
* 247.000 zur Deutschen Wehrmacht eingezogene österreichische
Soldaten waren tot.
* 35.000 zivile Kriegsopfer sind in Österreich ums Leben gekommen.
* 66.000 österreichische Juden und Jüdinnen wurden Opfer des
Holocaust.
* Weitere 130.000 wurden vertrieben und lebten über den ganzen
Erdball verstreut. Sie mussten erfahren, was es heißt politischer
Flüchtling zu sein. Auch das sollten wir nicht vergessen oder
verdrängen.
* Rund 20.000 Menschen - Erwachsene und Kinder - wurden im Zuge der
sogenannten Euthanasieprogramme ermordet.
* 90 % der in Österreich lebenden Roma und Sinti wurden Opfer des
Terrors.
* 9.500 Österreicherinnen und Österreicher wurden als
Widerstandskämpfer hingerichtet oder kamen in Gestapo-Haft ums Leben.
Eine unvorstellbare Bilanz des Grauens.
Niemand kann sie aus dem Buch der Geschichte streichen.
Liebe Österreicher und Österreicherinnen!
War der 12. März 1938 - jedenfalls in der Öffentlichkeit und in den
Straßen - ein Tag des propagandistisch orchestrierten Jubels, so war
der 27. April 1945, also der Tag der Wiedererrichtung eines
selbständigen, demokratischen Österreich, für die meisten ein Tag
echter Freude und Erleichterung über die Befreiung vom
Nationalsozialismus und über das bevorstehende Ende des Krieges.
Ein Aufatmen wie nach einem Alptraum.
Aber es gab auch Unsicherheit über das weitere Schicksal unseres
Landes. Dazu Hunger, Not und Zerstörung.
Und nicht zuletzt die Angst jener, die Schuld auf sich geladen
hatten.
Denn nur durch die Mitwirkung sehr vieler Fanatiker, Anhänger und
Mitläufer des NS-Regimes und auch durch gezieltes Wegschauen konnte
das totalitäre System aufgebaut werden, konnte die "Banalität des
Bösen" (wie es die Philosophin Hannah Arendt zu benennen versuchte)
täglich funktionieren.
Die vielen Verbrechen des "Dritten Reiches" hätten nicht begangen
werden können, Todesurteile nicht verhängt, Juden nicht massenhaft
verhaftet, abtransportiert und ermordet, Roma und Sinti nicht
umgebracht und Nachbarn nicht denunziert, ohne dass es unzählige
Täter, Mittäter, Denunzianten und Ariseure, das heißt, größere,
mittlere und kleinere Räder in der Maschinerie des NS-Staates gegeben
hat.
Es stimmt schon: Nach der Niederlage Hitlers und dem Ende des Krieges
wurden etliche Verantwortliche für die NS-Verbrechen in den
Nürnberger Prozessen und in anderen Verfahren zur Verantwortung
gezogen und harte Strafen - auch Todesurteile - verhängt. Aber viele
der mittleren oder kleineren Räder, die das NS-System in Österreich
funktionsfähig erhalten hatten, lebten weiterhin mit Opfern dieses
Räderwerks im gleichen Staat - oft auch im gleichen Ort - mehr oder
weniger unbehelligt zusammen.
In dieser "moralischen Gemengelage" und unter den schwierigen
Bedingungen der Nachkriegs- und Besatzungszeit Gut und Böse, Wahrheit
und Unwahrheit, Befehlsnotstand und aktives Mitmachen, Reue und
Opportunismus, Schuld und Unschuld im Einzelfall mit der für einen
Rechtsstaat erforderlichen Sicherheit unterscheiden zu können, war
enorm schwierig - und vielleicht auch nicht immer gewollt.
Die damals in Österreich weitverbreitete Opfertheorie lautete kurz
und bündig: Das Übel des Nationalsozialismus kam von außen, die
Befehle kamen von oben, und wir waren vor allem Opfer, die für all
das was geschehen ist keine Verantwortung tragen.
Auch auf der Präambel der österreichischen Unabhängigkeitserklärung
vom 27. April 1945 lag und liegt der Schatten einer geschönten bzw.
unrichtigen Darstellung der historischen Wahrheit.
Man wollte die Katastrophe hinter sich lassen und die Zukunft des
Landes auf einer neuen Basis in Angriff nehmen.
Die tiefen Wunden der Vergangenheit sollten verheilen.
Das kann ich verstehen.
Aber nur gereinigte und sauber gemachte Wunden können ohne
Entzündungsgefahr heilen. Und dieses Saubermachen der Wunden hat
lange Zeit auf sich warten lassen.
Wieso zunächst die Kraft - und vielfach auch der Wille - gefehlt hat,
das Unrecht, das Österreicher an anderen Österreichern, aber auch an
Menschen anderer Nationalität in der NS-Zeit begangen haben, mit
aller Klarheit anzusprechen, einzugestehen und die überlebenden Opfer
um Verzeihung zu bitten, ist eine der großen, nicht restlos geklärten
Fragen der Zweiten Republik.
Die Antwort ist so vielschichtig und von Einzelfall zu Einzelfall so
unterschiedlich, dass sie nicht in einer allgemein gültigen Formel
zusammengefasst werden kann. Es hat wohl auch politischer
Opportunismus eine Rolle dabei gespielt und es darf darüber hinaus
angenommen werden, dass manche, die im März 1938 am Heldenplatz und
anderswo so hysterisch gejubelt haben, und der NAZI-Partei nicht
rasch genug beitreten konnten, früher oder später wieder zur Vernunft
gekommen sind und erkannt haben, dass sie Statisten eines Betruges
und Mitwirkende an einer schrecklichen Tragödie waren, indem sie der
Hitlerbewegung eine Massenbasis verschafften.
Jedenfalls ist festzuhalten, dass sowohl das Verbotsgesetz, als auch
das österreichische Strafgesetzbuch, aber auch die Judikatur des
österreichischen Verfassungsgerichtshofes nach 1945 eine klare und
mit Sanktionen versehene Linie gegen jede Form der
nationalsozialistischen Wiederbetätigung vorgegeben haben.
Diese Linie war Grundkonsens für den Aufbau der Zweiten Republik und
muss es auch bleiben!!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Was das schwierige und schmerzvolle Kapitel der sogenannten
"Wiedergutmachung" oder besser gesagt einer Geste der Entschuldigung
und der Entschädigung für die jüdischen Opfer der NS-Zeit betrifft,
gab es einen langen Weg von den ersten zaghaften
Restitutionsmaßnahmen über viele weitere kleine Schritte bis zu einer
sich allmählich ändernden Geschichtsbetrachtung.
Klare Worte wie sie z.B. von Bundeskanzler Vranitzky und von
Bundespräsident Klestil Anfang der 90er Jahre ausgesprochen wurden,
spielten dabei eine wichtige Rolle. Besonders wertvoll war meines
Erachtens auch die Gründung des Österreichischen Nationalfonds und
der Entschluss zur Entschädigung von Zwangsarbeitern und
Zwangsarbeiterinnen.
Ich möchte mich daher heute sehr herzlich bei all jenen in Österreich
bedanken, die gedrängt und geholfen haben, dass das längst Fällige in
Angriff genommen wurde.
Lange war auch der Weg bis die Vernichtungsaktionen gegen Roma und
Sinti / die Verbrechen an Homosexuellen / oder auch die
Deportationen von Kärntner Sloweninnen und Slowenen beim Namen
genannt wurden.
Und es hat auch noch andere menschenrechtswidrige Deportationen mit
vielen Opfern gegeben.
Besonders lange bereitete es Probleme, Verständnis und Respekt für
Wehrdienstverweigerer wie Franz Jägerstätter, für die Männer und
Frauen der gescheiterten Widerstandsaktion vom 20. Juli 1944 oder für
Deserteure aus der Deutschen Wehrmacht zu bekunden.
Desertion aus der Hitler-Armee war und ist aber mit der Desertion aus
der Armee eines demokratischen Staates absolut nicht vergleichbar.
Erst in letzter Zeit haben wir uns immer deutlicher zu der Erkenntnis
durchgerungen, wie sehr die verschiedensten Formen des Widerstandes
gegen Hitler und sein System des Terrors Anerkennung verdienen und
dass dieser Anerkennung auch Ausdruck verliehen werden soll.
Der heutige Gedenktag ist eine gute Gelegenheit, dies mit aller
Deutlichkeit auszusprechen! !
Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch der Frage, ob die Zeit reif ist für einen sogenannten
Schlussstrich unter das was zwischen 1938 und 1945 geschehen ist,
möchte ich nicht ausweichen:
Meine Antwort lautet: Schlussstriche unter Verbrechen dieser
Dimension können weder von einzelnen Menschen, noch von Regierungen
oder Parlamenten dekretiert werden.
Aber ich darf an ein Motto erinnern, das eine große Österreicherin,
die jahrelang die Qualen der Haft in einem Konzentrationslager
erleiden musste, nämlich Rosa Jochmann, an ihrem Lebensabend
formuliert hat.
Dieses lautet: Vergessen nein, verzeihen ja.
Das halte ich für ein hohes Ideal im Umgang mit der Vergangenheit.
Liebe Österreicherinnen und Österreicher!
75 Jahre nach dem 12. März 1938 leben wir heute unter völlig
geänderten Umständen.
Die Gefahr des Kommunismus existiert in Europa nicht mehr, die
Grenzen in Europa sind international anerkannt, der
Nationalsozialismus hat so viel Schreckliches zu verantworten, dass
er bei jedem Menschen, der seiner Sinne mächtig ist, Abscheu erregen
muss.
Und auch die Europäische Union betrachte ich trotz mancher Schwächen
als Bollwerk gegen die dramatischen Verirrungen des 20. Jahrhunderts.
Der Rückblick lässt uns klar erkennen, wie groß und kostbar der
Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Krieg und
Frieden, zwischen Rassismus und Achtung der Menschenwürde, also
zwischen damals und heute ist.
Auch der Unterschied unseres Verhältnisses zu Deutschland könnte
nicht größer sein.
1938 war Deutschland eine übermächtige, brutale Diktatur, während
heute unser Verhältnis zu Deutschland so gut ist, wie nie zuvor in
unserer Geschichte. Das gilt auch für unsere anderen Nachbarstaaten.
Der Rückblick auf den März 1938 hilft uns darüber hinaus den Weg in
die Zukunft zu finden.
Unser Ziel ist ein Europa, in dem es keinen Hass zwischen
verschiedenen Nationen oder zwischen verschiedenen Religionen gibt
und in dem wir die nationalen Egoismen aber auch den individuellen
Egoismus in Grenzen halten.
Ein friedliches und solidarisches Europa.
Ein demokratisches und soziales Europa, das seinen Grundwerten
verpflichtet ist.
Dafür lohnt es sich zu arbeiten.
Und wenn wir uns von diesen Werten und Prinzipien nicht abbringen
lassen, dann dürfen wir sagen:
Wir haben aus der Geschichte gelernt.
Ich danke Ihnen.
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