• 28.07.2012, 16:55:52
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Die Presse am Sonntag - Leitartikel: "Keine falsche Scham", von Ulrike Weiser

Ausgabe vom 29.07.2012

Wien (OTS) - Die Debatte über Beschneidung sollte nicht als
"unwichtig" abgetan werden. Zu einer ehrlichen Diskussion gehört aber
auch, dass Kritiker über ihre Motive nachdenken.

Wann braucht es eine öffentliche Debatte über rituelle Beschneidung?
Wann, wenn nicht jetzt? Wenn Spitäler aus Angst vor dem Rechtsrisiko
einen OP-Stopp verhängen. Wenn Vertreter von vier Religionen wegen
allgemeiner Verunsicherung eine offizielle Erklärung der Regierung
fordern.
Allein: Die heimischen Spitzenpolitiker sehen keinen
Diskussionsbedarf. Das sei "nicht wichtig", sagt der
Gesundheitsminister. Da gebe es nichts klarzustellen, heißt es aus
dem Justizministerium (dort sollte man sich fragen, warum seine
Versicherung, der Eingriff sei straflos, den Betroffenen nicht
genügt). Dass das Terrain heikel ist, zeigt nicht zuletzt, dass sich
weder Bundespräsident noch Integrationsstaatssekretär näher äußert.
Die sagen sonst zu fast allem etwas.
Die politische Scham findet ihren Widerhall in einer legistisch
geschickten Lösung: Die Straflosigkeit der religiös motivierten
Beschneidung von Kindern ergibt sich nur implizit, eine ausdrückliche
gesetzliche Erlaubnis (in der man etwa Qualitätskriterien festlegen
könnte) fehlt. Denn so einer Regelung würden Fragen vorangehen, die
offenbar keiner stellen will: Wann ist Religionsfreiheit mehr wert
als körperliche Unversehrtheit? Oder: Wie verhält sich das Recht der
Eltern, Kinder so zu prägen, wie sie es für richtig halten, gegenüber
einem modernen kindlichen Selbstbestimmungsrecht? Man muss wahrlich
kein Antisemit oder Islamfeind sein, um darüber nachzudenken.
Deshalb Ja zur Debatte, aber auch Ja zur Kritik an ihrem bisherigen
Verlauf: Denn warum die Frage der Kinderrechte auf Religion reduziert
wird, darf man hinterfragen. Immerhin fällen Eltern täglich
Entscheidungen, die für Kinder auch körperliche Langzeitfolgen haben,
gute wie schlechte. Skurrile Ernährungsvorschriften, Passivrauchen,
extremer Sport: Die Liste der Dinge, die Eltern Kindern zumuten, ist
lang.
Dennoch ist uns die ambivalente elterliche Freiheit lieber als ihr
Gegenteil - die Omnipräsenz des Staates im Kinderzimmer. Die Grenze
der Freiheit ist jedoch die Gefahr für das Kind. Besteht diese bei
der Beschneidung? Zwar handelt es sich um eine OP (mit Risiko), die
aber keinen gesundheitlichen Schaden verursacht. Zumindest lautet so
bisher die landläufige Prämisse. Sollte sie mit Studien widerlegt
werden, wäre ein Verbot jedoch tatsächlich Gebot.
Geht man aber hier und nun davon aus, dass dem Kind bei sachgemäßer
Durchführung kein Schaden zugefügt wird, stehen sich nicht Kinder-
und Elternrechte gegenüber, sondern Menschen, für die religiöse
Regeln zentral zur Identität gehören, und eine, wie das so hübsch
heißt, "religiös unmusikalische" Gesellschaft.
Für diese ergeben solche Regeln einfach keinen Sinn. Anders als etwa
die Weltsicht von Impfgegnern, die man, auch wenn man sie nicht
teilt, rational nachvollziehen kann. Bekämen Juden und Muslime mehr
Verständnis, würden sie Hygiene oder gar bessere Sexualität als Grund
für die Beschneidung angeben? Kann sein. Aber soll das tatsächlich
ihr Problem sein? Hoffentlich nicht.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445
mailto:chefvomdienst@diepresse.com
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