• 04.04.2012, 16:15:31
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Wiener Zeitung: Leitartikel von Reinhard Göweil: "Oliver wird leiden"

Ausgabe vom 5. April 2012

Wien (OTS) - Der fünfjährige Oliver, der von seinem dänischen
Vater "entführt" wurde, wirft kein gutes Licht auf die heimische
Justiz. "Das ist ein juristisches Problem, man sollte einen kühlen
Kopf bewahren", sagte der Leitende Staatsanwalt in Graz nun dazu. Der
Satz wurde davor von ihm missachtet, weil die Justiz sofort einen
internationalen Haftbefehl gegen den Vater ausstellte - ein eher
unangemessen großes Geschütz.

Falsch ist der Satz auch. Der Streit um das Sorgerecht für ein Kind
ist nie ein juristisches Problem, sondern immer ein zutiefst
emotionales - dahinter stecken Scheidungskämpfe.

Nun ist das Recht in Österreich grundsätzlich auf der Seite der Frau
beziehungsweise Mutter, weil das Gesetz davon ausgeht, dass die Frau
der (finanziell) schwächere Part ist, aber dafür mehr Zeit für die
Kindeserziehung hat.

Hinter dieser gesellschaftspolitisch eher antiquierten Einstellung
versammelt sich allerdings bis heute eine ungewöhnliche Allianz aus
katholischer Kirche und Frauenrechtler(inne)n.

Immer wenn Gesetz und gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr
übereinstimmen, beginnt der Formalismus sein wenig segensreiches
Wirken: Viele einschlägige Urteile fußen bis heute auf OGH-Sprüchen
aus grauer Vorzeit.

Im Fall des fünfjährigen Olivers ist es besonders krass. Weil nicht
sein kann, was nicht sein darf, wurde ein dänisches Urteil, das dem
Vater die Obsorge zusprach, vom heimischen Pflegschaftsgericht
einfach negiert. In Österreich bekam sie die Mutter zugesprochen.

Ohne eine Wertung abzugeben, ob nun Vater oder Mutter dieses Buben
"recht haben": Den Spruch vom "kühlen Kopf" hätte der
Oberstaatsanwalt in Graz besser vorher dem dortigen
Pflegschaftsgericht mit auf den Weg gegeben. Dieses aber folgte der
eingeübten Praxis und nahm auf die Mutter Rücksicht - das Kindeswohl
kann es nicht gewesen sein. Denn dass der (unbescholtene) Vater mit
seinem Sohn vor der "Kindesentziehung" bloß in einem kleinen Zimmer,
unter Aufsicht und exakt vereinbarter Zeit sprechen durfte, ist
unwürdig - und verlängert den Schatten, der auf dem Gericht lastet.

Der kleine Oliver wird derzeit vermutlich nicht genau wissen, wie ihm
geschieht - und das juristische Tauziehen hat nicht einmal begonnen.
Die Verantwortung für das Desaster trägt ein österreichisches
Gericht, das aus formalen Gründen weit übers Ziel geschossen hat.

www.wienerzeitung.at/leitartikel

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Wiener Zeitung
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Tel.: +43 1 206 99-474
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