Gravierende Änderung der Strafprozessordnung an Begutachtung vorbeimanövriert. ÖRAK-Präsident Wolff: "Dieses Vorgehen ist eines Rechtsstaates unwürdig, das Parlament muss handeln!"
Wien (OTS) - Mit großer Sorge nimmt der Österreichische
Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) zur Kenntnis, dass ein Gesetzesentwurf,
der von der Rechtsanwaltschaft mit Stellungnahme vom 7. Februar 2012
begutachtet wurde, nach Ablauf der Begutachtungsfrist (7. Februar
2012) und vor der Behandlung im Ministerrat (28. Februar 2012)
wesentliche Änderungen erfahren hat, die - weil nachträglich in den
Text eingefügt - einer Begutachtung entzogen waren. Diese Änderungen
der Strafprozessordnung besitzen enorme gesellschaftliche Tragweite
und Brisanz. Es handelt sich dabei um die Schaffung gesetzlicher
Rahmenbedingungen, unter denen Redaktionsgeheimnis, anwaltliche
Verschwiegenheit und eine Reihe weiterer gesetzlich geregelter
Verschwiegenheitspflichten und -rechte problemlos von der
Staatsanwaltschaft ausgehebelt werden können, und zwar ohne
Einbindung eines unabhängigen Gerichts, dessen Kompetenzen im
Strafverfahren weiter zugunsten der weisungsgebundenen
Staatsanwaltschaft eingeschränkt werden.
ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff zeigt sich erschüttert und spricht
von einem unwürdigen, undemokratischen Vorgehen. "Der nun in der
Regierungsvorlage versteckte Angriff auf Grundpfeiler des
demokratischen Rechtsstaates hätte in der Begutachtung verheerende
Kritik erfahren, das wusste auch das Justizministerium, und ließ die
betreffende Passage deshalb erst nach Ende der Begutachtung
hinzufügen", so Wolff.
Konkret geht es um die Paragrafen 112 und 116 der
Strafprozessordnung. § 112 regelt die Sicherstellung von
schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträgern bei Personen, die im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger deren Recht auf verschwiegene
Behandlung ihrer Daten und Informationen zu wahren haben. Dies gilt
für Journalisten, Rechtsanwälte, Steuerberater, Notare, Ärzte und
andere Berufsgruppen.
Gerade eine aufsehenerregende Publikation eines investigativen
Journalisten fällt auffällig genau in den Zeitraum zwischen
Begutachtungsende und Ministerratsbeschluss, in dem es plötzlich als
notwendig erachtet wurde, den fertig begutachteten Entwurf maßgeblich
abzuändern, und über die Zubilligung von gesetzlich garantierten
Berufsgeheimnissen nun die Staatsanwaltschaft entscheiden zu lassen.
"Es ist bedenklich, eine so gravierende Bestimmung nicht mit den
betroffenen Berufen zu diskutieren, sondern am Begutachtungsverfahren
vorbeizuschleusen", mahnt Wolff zu mehr Sensibilität und
Aufrichtigkeit. Die nun gewählte Vorgehensweise wertet die
österreichische Rechtsanwaltschaft als massiven Angriff auf die
Rechte der Bürger und einer Demokratie unwürdig. "Dies ist eine
demokratiepolitische Farce!", so Wolff. Die betroffenen Berufsgruppen
und die Öffentlichkeit wurden nicht einmal nachträglich über die
Veränderungen informiert. Auf mehrfache Anfrage des ÖRAK beim
Justizministerium wurde keine Auskunft erteilt.
"Sollten die Regierungsparteien im Parlament dieses Gesetz nun
einfach durchwinken, wäre der Skandal perfekt. Wenn wir in Österreich
noch einen Funken politischen Anstand besitzen, muss das Parlament
diesen Gesetzesentwurf ablehnen", findet Wolff klare Worte. Der
Österreichische Rechtsanwaltskammertag hat umgehend alle politisch
Verantwortlichen, aber auch alle anderen in der Begutachtung
umgangenen Institutionen (Oberster Gerichtshof, Verfassungsdienst im
Bundeskanzleramt, Rechnungshof usw), die betroffenen Berufsgruppen
und den Herrn Bundespräsidenten von der Vorgehensweise und dem
brisanten Inhalt der Regierungsvorlage informiert.
Details zum Ablauf, Inhalt des durchgeschleusten
Gesetzesentwurfes und seinen Auswirkungen
Ablauf:
Am 24. Jänner 2012 wurde vom Justizministerium ein Gesetzesentwurf in
Begutachtung geschickt, mit dem eine Reihe von Regelungen im
Tilgungsgesetz, im Strafregistergesetz aber auch in der
Strafprozessordnung (StPO) geändert werden sollen (Der
Begutachtungsentwurf ist hier abrufbar:
http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ME/ME_00347/index.shtml).
Darunter auch § 112 StPO. Dieser Paragraf regelt die Sicherstellung
von schriftlichen Aufzeichnungen oder Datenträgern bei Personen, die
im Interesse der Bürgerinnen und Bürger einer gesetzlich anerkannten
Pflicht zur Verschwiegenheit unterliegen. Dies betrifft sowohl
Journalisten, als auch Rechtsanwälte, Steuerberater, Notare, Ärzte
und andere (siehe § 157 Abs. 1 StPO). Die geltende Rechtslage sieht
vor, dass bei Widerspruch gegen eine Sicherstellung (zB im Rahmen
einer Hausdurchsuchung) die jeweiligen Aufzeichnungen und Datenträger
versiegelt und dem Gericht vorgelegt werden müssen, ohne dass sie
zuvor eingesehen werden dürfen. Das Gericht hat daraufhin die
Aufzeichnungen und Datenträger zu sichten und zu entscheiden, ob und
in welchem Umfang sie zu beschlagnahmen oder dem Betroffenen
zurückzustellen sind. Einer Beschwerde gegen die Entscheidung des
Gerichts kommt aufschiebende Wirkung zu. Der Begutachtungsentwurf sah
eine Präzisierung dieser Regelung vor, indem lediglich der Begriff
"Pflicht zur Verschwiegenheit" in "Recht auf Verschwiegenheit"
geändert werden sollte. Damit wäre einer Entscheidung des Obersten
Gerichtshofes (OGH) Rechnung getragen worden. Gegen diesen
Änderungsvorschlag gab es im Rahmen der Begutachtung keinerlei
Einwände, auch nicht von der Rechtsanwaltschaft. Am 7. Februar 2012
endete die Begutachtungsfrist.
Drei Wochen später, am 28. Februar 2012, wurde im Ministerrat eine
Regierungsvorlage beschlossen, deren Inhalt gravierende Änderungen
erfahren hat, die somit einer Begutachtung entzogen waren (Die
Regierungsvorlage ist hier abrufbar:
http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/I/I_01677/index.shtml).
Nachträgliche, gravierende Änderungen:
- Beschuldigte Rechtsanwälte, Journalisten, Ärzte, Steuerberater,
Notare ua können künftig nicht mehr der Sicherstellung von
Aufzeichnungen und Datenträgern widersprechen. Es wäre daher künftig
ein Leichtes, die Verschwiegenheit eines Rechtsanwaltes oder das
Redaktionsgeheimnis auszuhebeln, indem man den Betroffenen in die
Position eines Beschuldigten versetzt. Gerade in Wirtschafts- und
Korruptionsfällen wäre diese Vorgehensweise leicht möglich und in
manchen Fällen zu verführerisch. Dabei wird völlig außer Acht
gelassen, dass Rechtsanwälte, Journalisten usw. auch in der Position
eines Beschuldigten nicht von ihrer Verschwiegenheit entbunden sind.
Durchsuchungsbefehle werden zudem von den Sicherheitsbehörden in der
Regel durchaus weit interpretiert, weshalb auch Akten und Datenträger
mitgenommen werden, die nicht die jeweilige Causa betreffen. Gerade
bei der Sicherstellung von Datenträgern ist eine Trennung in vielen
Fällen gar nicht möglich, es wird vielmehr die ganze Festplatte
mitgenommen, womit die Sicherheitsbehörden im Besitz des gesamten
Akten- bzw Datenmaterials einer Kanzlei oder Redaktion wären. Die
Rechtsanwaltschaft spricht sich daher entschieden dagegen aus, dass
ein Beschuldigter nicht im Sinne des § 112 der Sicherstellung
widersprechen darf.
- Bei einem Widerspruch des Betroffenen gegen die Sicherstellung
waren bisher die Aufzeichnungen und Datenträger zu versiegeln und dem
Gericht vorzulegen. Künftig wären sie von der Staatsanwaltschaft "vom
Ermittlungsakt getrennt aufzubewahren". Der Betroffene hätte binnen
einer "angemessenen, 14 Tage nicht übersteigenden Frist" jene Teile
genau zu bezeichnen, deren Offenlegung eine Umgehung seiner
Verschwiegenheitspflicht bedeuten würde. Unterlässt er dies, wären
die Aufzeichnungen zum Akt zu nehmen. Bisher prüfte das Gericht,
künftig müsste der Betroffene selbst binnen maximal 14 Tagen konkrete
Angaben machen, was ihm in der Praxis gar nicht möglich sein wird.
Oft ist niemand informiert, was die Sicherheitsbehörden tatsächlich
mitgenommen haben. Außerdem wird es dem Betroffenen mit Sicherheit
nicht möglich sein, die beschlagnahmten Unterlagen binnen 14 Tagen
zur Einsicht zu erhalten, zu sichten und dazu noch ein konkretes
substantiiertes Vorbringen in Hinblick auf jene Aktenteile zu
erstatten, die der Verschwiegenheit unterliegen.
- Anstelle des Richters soll künftig der Staatsanwalt unter
Beiziehung "geeigneter Hilfskräfte" (womöglich die ermittelnden
Beamten?) die sichergestellten Unterlagen sichten und anordnen, in
welchem Umfang sie zum Akt zu nehmen sind. Gegen die spätere
Anordnung der Staatsanwaltschaft, welche Unterlagen zum Akt zu nehmen
sind, kann zwar Einspruch erhoben werden, zu diesem Zeitpunkt wurden
die Unterlagen aber bereits von dieser gesichtet. Dadurch würden die
Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis des Inhalts kommen, noch bevor
überhaupt geklärt ist, ob die Unterlagen der Verschwiegenheit
unterliegen. Genau jene Personen, denen gegenüber die
Verschwiegenheit gilt, könnten dadurch die Unterlagen vor der
Entscheidung, in welchem Umfang sie überhaupt zum Akt genommen
werden, einsehen und damit in Kenntnis des Inhalts gelangen. Von
einer Wahrung der Verschwiegenheit oder des Redaktionsgeheimnisses
kann keine Rede mehr sein.
Bisher bestand der Grundsatz, dass bei wesentlichen Eingriffen in die
Grundrechte des Bürgers nicht der Staatsanwalt, sondern der Richter
zu prüfen hat, und zwar als erste Instanz (nicht als letzte). Nun
wird von diesem Grundsatz ohne Vorankündigung, ohne Diskussion, ja
sogar ohne Information der Öffentlichkeit abgegangen. "Es ist Aufgabe
des weisungsfreien, unabhängigen Richters, über derartige Eingriffe
zu befinden und nicht jene des weisungsgebundenen Staatsanwalts", so
Wolff. Auch in § 116 StPO wird der ursprüngliche Entwurf, in dem eine
Änderung dieses Paragrafen gar nicht vorgesehen war, nachträglich
abgeändert und richterliche Kompetenz zugunsten der
Staatsanwaltschaft beseitigt.
"Offenbar sollen die Gerichte ausgebremst werden, indem man die
Kompetenzen des Richters im Strafverfahren einschränkt", so Wolff.
"Die Macht des weisungsgebundenen Staatsanwaltes soll hingegen immer
größer werden". Dies sei umso besorgniserregender, wenn derartige
Regelungen auch noch geheim, unter Umgehung der Begutachtung, in
einen vorhandenen, unverdächtigen Entwurf eingeschleust werden.
Außerdem werden versteckt und entgegen Artikel 6 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) die Verschwiegenheitspflichten und
-rechte zahlreicher Berufsgruppen ausgehebelt. "Im Rahmen eines
ordentlichen Begutachtungsverfahrens wären diese Pläne von allen
Experten in der Luft zerrissen worden", so Wolff, der die
Vorgehensweise des Justizministeriums als inakzeptabel bezeichnet.
In Österreich gibt es 5700 Rechtsanwälte und 1900
Rechtsanwaltsanwärter. Rechtsanwälte sind bestausgebildete und
unabhängige Rechtsvertreter und -berater, die nur ihren Klienten
verpflichtet und verantwortlich sind. Primäre Aufgabe ist der Schutz,
die Verteidigung und die Durchsetzung der Rechte Einzelner. Dritten
gegenüber sind Rechtsanwälte zu absoluter Verschwiegenheit
verpflichtet, womit auch eine völlige Unabhängigkeit vom Staat
gewährleistet wird. Vertreten werden die Rechtsanwälte durch die
Rechtsanwaltskammern in den Bundesländern sowie durch den
Österreichischen Rechtsanwaltskammertag, ÖRAK, mit Sitz in Wien.
Rückfragehinweis:
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK)
Bernhard Hruschka Bakk.
Tel.: 01 535 12 75-15, 0699 104 165 18
mailto:hruschka@oerak.at
www.rechtsanwaelte.at
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