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"Die Presse" - Leitartikel: Den großen Wurf gibt es gar nicht, von Michael Fleischhacker
Ausgabe vom 22.10.2011
Wien (OTS) - Der Kapitalismus, sagen die Enteignungseuphoriker,
hat genau so versagt wie der Sozialismus, es muss etwas Neues her.
Stimmt ja vielleicht. Aber was ist das Neue?
Den großen Wurf, ohne den angeblich die Euro-Schuldenkrise nicht
beendet werden kann, wird es wohl nicht geben. Jedenfalls nicht an
diesem Wochenende, vermutlich auch nicht am Mittwoch. Das hat
verschiedene Gründe. Der wichtigste: Den großen Wurf, der die
gegenwärtige Krise lösen könnte, gibt es gar nicht. Jedenfalls nicht
innerhalb des mechanisch-quantitativen Denkens, das derzeit vor allem
den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf der Suche nach noch
mehr Billionen für den Rettungsschirms umtreibt. "Size does matter"
ist einfach ein Klassiker für Menschen, die am "short man syndrome"
leiden, und so lässt der Franzose nicht locker.
So wird es aber - abgesehen davon, dass sich der Rest der Europäer
die französisch-deutschen Allmachtsfantasien nicht ewig gefallen
lassen wird - nicht gehen: Einfach noch mehr Geld in ein ansonsten
unverändertes System zu schütten, ob nun auf dem Weg einer Banklizenz
für den EFSF oder sonstiger Hebelvorrichtungen (das "Leverage"-System
von Finanzierungen mit zu hohem Fremdkapitalanteil gilt übrigens als
einer der großen Verursacher der 2008er-Krise), führt zu nichts als
immer teureren, immer kürzeren Aufschüben.
Im Große-Würfe-Supermarkt stehen derzeit leider nur zwei Modelle im
Regal: Entweder man wandelt die Europäische Union in einer Art
Blitz-Zentralisierung zumindest auf wirtschaftspolitischer Ebene in
einen Bundesstaat um. Oder man verkleinert die Eurozone auf die
Hartwährungsländer. Beides ist mit ziemlicher Sicherheit sehr teuer,
der Unterschied liegt eher im Prinzip. Manche wollen einen
europäischen Bundesstaat, andere sind der Ansicht, dass die von den
Briten immer schon favorisierte Vorstellung einer Freihandelszone,
innerhalb der Staaten mit je eigener Währung freundschaftlichen
Wettbewerb pflegen, angemessener ist.
Die netten Europäer, die meinen, ein europäischer Bundesstaat sei die
gutbürgerliche Fortsetzung dessen, was sie im Griechischunterricht im
Schottengymnasium gelernt haben, sollten sich allerdings keine
Illusionen machen: Nach der angeblich so grausamen Periode des
sogenannten Neoliberalismus kommt jetzt die Blütezeit des
Neosozialismus, und zwar, um im deutschsprachigen Raum zu bleiben,
unter Einbeziehung der neosozialistischen CDU, CSU und ÖVP. Die
herzjesumarxistische Propaganda von Attac und ähnlichen
Enteignungseuphorikern, die sich darauf verlassen kann, dass die
yogageeichte liberal-katholische Hausfrau in Hietzing die "Occupy
Wall Street"-Aktivisten für die Urenkel des heiligen Franz von Assisi
hält, geht voll auf: Der Kapitalismus, sagen sie, hat genauso versagt
wie der Sozialismus, es muss etwas Neues her.
Stimmt ja auch irgendwie. Aber was ist das Neue? Das Neue, das sich
derzeit im linken Mainstream von Sozialwissenschaften und Medien
ankündigt, und auf das die verängstigten Konservativen aufspringen,
weil sie fürchten, für ihre wirtschaftsliberalen Restpositionen in
die gemeinwohlökonomische Gummizelle gesteckt zu werden, ist auf
jeden Fall eines: antiliberal. Eigeninteresse ist Gier,
Selbstbestimmung ist Egoismus, Eigenverantwortung ist soziale Kälte.
Die Verstaatlicher und Entmündiger wittern Morgenluft. Man fühlt sich
an Dostojewskis Großinquisitor erinnert: Der Mann, der die Freiheit
predigt und die Ordnung infrage stellt, wird verhaftet und in der
Dunkelheit davongejagt. Er wird hier nicht gebraucht, die Menschen
wollen nach der Überzeugung des Großinquisitors keine Freiheit,
Freiheit ängstigt sie nur, sie wollen und brauchen die Sicherheit der
Institution.
Der Chefredakteur jenes Konsumverweigerermagazins ("Adbusters"), das
die Wall-Street-Demos organisiert, spricht im Sinn einer neuen
Bescheidenheit von der ersten Weltrevolution, die sich da ankündige
(falls sich an dieser Stelle jemand fragt, ob Größenwahn in dieser
Branche einfach dazugehört, die Antwort ist Ja). Das revolutionäre
Pathos hat auch schon das eine oder andere Mainstream-Medium erfasst.
Kein Wunder: Wer verschläft schon gern eine Weltrevolution?
Falls Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein Gefühl dafür bekommen
möchten, wie das Ergebnis dieser Weltrevolution ungefähr aussehen
wird, werfen Sie einen Blick nach China. Wer wollte bezweifeln, dass
es sich dabei um eine Erfolgsgeschichte handelt?
Rückfragehinweis:
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