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"Die Presse" - Leitartikel: Selten waren österreichische Behörden so unbürokratisch, von Christian ULTSCH
Ausgabe vom 20.07.2011
Wien (OTS) - Selten waren österreichische Behörden so
unbürokratisch
Leitartikel von Christian ULTSCH
Österreich fehlte der politische Wille, die Auslieferung des
KGB-Mannes Golowatow nach Litauen genauer zu prüfen. Diesmal ließ man
die Justiz lieber ungestört arbeiten.
Michail Golowatow war in Österreich bis vor Kurzem nur ganz wenigen
Baltikum-Spezialisten ein Begriff. In Litauen aber kennt ihn jeder.
Denn der ehemalige russische KGB-Oberst war Kommandant der
Sondereinheit Alpha, die am 14. Jänner 1991 den Fernsehturm in der
litauischen Hauptstadt, Vilnius, stürmte. 14 Menschen, die sich
schützend vor das Rundfunkzentrum gestellt hatten, starben bei dem
Angriff, mit dem die abtrünnige Republik gewaltsam in der
zerfallenden Sowjetunion gehalten werden sollte.
Der "Blutsonntag" ist ein Schlüsseldatum in der jüngeren Geschichte
Litauens, integraler Bestandteil des Gründungsmythos des kleinen
Staates.
Der historische Hintergrund ist wichtig, um zu verstehen, wie
emotional (und vielleicht auch innenpolitisch motiviert) die Litauer
nun darauf reagieren, dass Österreich einen der mutmaßlichen
Hauptverantwortlichen für das Massaker von Vilnius nach nicht einmal
24 Stunden einfach laufen ließ. Die österreichischen Behörden
agierten unbürokratisch, wie man das in anderen Fällen oft
schmerzlich vermisst. Der zuständigen Staatsanwaltschaft in
Korneuburg war der Europäische Haftbefehl gegen Golowatow, der am
Donnerstag auf dem Flughafen Wien-Schwechat festgehalten worden war,
nicht konkret genug.
Einen seltsamen Nachgeschmack hinterlässt, warum Österreich den
Litauern kaum Zeit ließ, um Informationen nachzureichen. Zwei Tage
lang hätte man Golowatow nach österreichischem Recht festhalten
können, um den Tatverdacht zu überprüfen. Doch die Staatsanwaltschaft
hat nicht einmal diese 48 Stunden ausgeschöpft. Dazu mag eine gewisse
Unfähigkeit der litauischen Stellen beigetragen haben. Nach Auskunft
des Justizministeriums schickte die Staatsanwaltschaft in Vilnius die
Anklageschrift gegen Golowatow zunächst auf Litauisch. Eine englische
Version hätte sie erst nach Ablauf der 48-Stunden-Frist nachliefern
können. Dafür, wie wichtig der Fall für das Land ist, war Litauen
erstaunlich schlecht vorbereitet.
Die österreichischen Behörden vermitteln jedoch in keiner Phase den
Eindruck, dass ihnen der Fall Golowatow ein Anliegen gewesen sein
könnte. Es bleibt fraglich, ob der Tatverdacht tatsächlich nicht
ausreichend begründet war. Ein Blick ins Geschichtsbuch oder auch nur
in einen Wikipedia-Eintrag hätte genügt, um zu sehen, dass Golowatow
Kommandant der Einheit war, die das Blutbad in Vilnius anrichtete.
Formal wäre ein anderes Argument stärker gewesen. Und man wundert
sich, warum es die auslieferungsunwilligen Österreicher nicht gleich
betont haben. Die Republik hat schon vor Längerem eine
Opting-out-Möglichkeit genützt: Straftaten vor dem 7. August 2002
sind vom EU-Haftbefehl ausgenommen. Österreich ist demnach im Streit
mit Litauen im Recht, wie die zuständige EU-Kommissarin, Viviane
Reding, am Dienstag ausdrücklich festhielt. Doch es bleibt, wie sie
ebenso hinzufügte, immer noch eine politische Dimension. Die
österreichische Justiz war nicht verpflichtet, Golowatow
auszuliefern, aber gehindert hätte sie auch nichts daran. Die
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die man Golowatow in Litauen zum
Vorwurf macht, verjähren nicht.
Im Endeffekt putzen sich alle bei der weisungsgebundenen
Staatsanwaltschaft Korneuburg ab. Das Justizministerium teilt mit,
dass es nur als "Übermittlungsbehörde", also quasi als Postamt,
agiert habe. Und Außenminister Spindelegger betont bei jeder
Gelegenheit, dass der Rechtsstaat seinen unabhängigen Lauf genommen
habe. Letztlich sind wahrscheinlich alle glücklich, dass es nicht
anders kam. Man stelle sich die Aufregung in Moskau vor, wenn
Österreich einen russischen Staatsbürger nach Litauen ausgeliefert
hätte.
Es gibt keinen Beleg dafür, dass Russland intervenierte. Spindelegger
streitet dies auch ab. Eher könnte es sich um einen Fall eines
internalisierten vorauseilenden Gehorsams handeln. Diesen Vorwurf
muss sich aber viel eher noch Finnland, das Golowatow ein
Schengen-Visum ausgestellt hat, gefallen lassen, ebenso wie
Tschechien und Zypern, die den Russen ungehindert einreisen ließen.
Auf der Strecke geblieben ist dieser Tage in der EU vor allem eines:
die Gerechtigkeit.
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