• 27.05.2011, 18:26:34
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Die Presse - Leitartikel: "Die EU stabilisiert den Balkan und destabilisiert sich selbst", von Michael Fleischhacker

Ausgabe vom 28.05.2011

Wien (OTS) - Die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan ist die
konsequente Fortsetzung einer Politik, die man als umgekehrten
"erweiterten Selbstmord" bezeichnen könnte.

Die Kriminalpsychologie kennt im Zusammenhang mit Amokläufen den
Begriff des "erweiterten Selbstmordes": Der Amokläufer tötet nicht
zehn Menschen, weil er zehn Menschen töten will. Er will sich selbst
töten und dabei nicht allein sein.
Die Europäische Union ist möglicherweise auch gerade dabei,
Selbstmord zu begehen, allerdings unter genau umgekehrten Vorzeichen:
Sie will möglichst vielen Ländern eine Perspektive bieten und hat
deshalb selbst kaum noch eine. Ob bei der großen Erweiterungsrunde um
zehn Mitglieder im Jahr 2004 oder bei der Aufnahme von Bulgarien und
Rumänien 2007: Alle Warnungen, dass die Kandidaten noch nicht
beitrittsreif seien, wurden mit dem Argument erschlagen, dass für den
ehemaligen Ostblock und für den Balkan die Perspektive eines
EU-Beitritts und der Beitritt selbst die einzige Garantie für Reform-
und Westorientierung seien. Dass heute die größte Gefahr von "alten"
Mitgliedern ausgeht, zeigt nur, dass auch die EU noch nicht
beitrittsreif war.
Die EU hat also, um den Staaten Zentral- und Südosteuropas eine
Perspektive zu eröffnen, ihre eigene Perspektive aufs Spiel gesetzt.
Ein Akt von Selbstlosigkeit im Angesicht eines weltgeschichtlichen
Zeitfensters, könnte man sagen. Allerdings ist es mit der
Selbstlosigkeit so eine Sache: Erstaunlich oft neigen Menschen zur
Selbstlosigkeit, die kein Selbst haben, das sie loswerden könnten.
Mit Institutionen scheint es nicht anders zu sein.
Was das "Selbst" der EU denn sei, wurde erörtert, noch lange bevor
ihre ersten Vorläufer gegründet wurden. Ironischerweise war es der
britische Premier Winston Churchill, der 1946 die "Vereinigten
Staaten von Europa" propagierte, Frankreichs General de Gaulle
antwortet mit seinem Vorschlag eines "Europa der Vaterländer". Der
deutsche Außenminister Joschka Fischer wünschte sich in seiner
berühmten Rede an der Berliner Humboldt-Universität noch im Jahr 2000
eine "Europäische Föderation", nach dem Subsidiaritätsprinzip
organisiert, aber eben doch ein souveräner Staat, wenn auch einer,
der aus souveränen Staaten gebildet wird.
Das Staatlichkeitsdenken der Europäer ist schon lange schizophren.
Als bald nach der Jahrtausendwende der Massenbeitritt der ehemaligen
Ostblockstaaten zur Debatte stand, geschah dies unter dem Motto
"Erweiterung oder Vertiefung". Am Ende erklärten die europäischen
Auskenner den Bürgern, dass Erweiterung und Vertiefung kein
Widerspruch seien. Es waren dieselben Auskenner, die sich immer
stärker darüber zu wundern begannen, dass die europäische Idee nach
und nach an Zugkraft und Zustimmung einbüßte. Dass das etwas damit zu
tun haben könnte, dass sie, die europäischen Auskenner, uns, die
europäischen Hausverstandsbenutzer, für dumm verkauften, auf die Idee
kamen sie nicht.
Nach demselben Muster lief die Debatte rund um die Einführung des
"Euro" ab. Die Vertreter der "Krönungstheorie" wiesen darauf hin,
dass die Schaffung eines einheitlichen Währungsraumes erst angeraten
sei, wenn man zuvor dafür sorge, dass die teilnehmenden Staaten
wirksam zur Einhaltung der Stabilitätskriterien angehalten werden
könnten. Man tat das als uneuropäische Kleingeisterei ab und wies
erneut auf die einmalige Chance hin, Europa nach der Zeitenwende
durch eine gemeinsame Währung als ökonomischen und politischen
Spieler auf dem Feld der neuen Weltordnung einzuführen.

Man sieht inzwischen, dass es sich bei dem Spieler, der da gekauft
wurde, um einen fußmaroden Kerl handelt, der planlos im Mittelfeld
herumrennt, weil er zum Stürmen zu langsam und zum Verteidigen zu
schwach ist.
Die Union ist durch ihre Unfähigkeit, wenigstens jenen Teil ihrer
Mitglieder auf Stabilitätskurs zu halten, der an der gemeinsamen
Währung teilnimmt, lebensbedrohlichen Risken ausgesetzt. Da würde
sogar ein Sofortbeitritt Serbiens wie ein überschaubares
Kollateralrisiko wirken.
Die Europäer haben sich vor längerer Zeit dazu entschlossen, für die
Stabilisierung potenzieller Mitglieder die eigene Stabilität aufs
Spiel zu setzen. So, wie es aussieht, werden sie verlieren.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445
mailto:chefvomdienst@diepresse.com
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