- 11.03.2011, 18:30:49
- /
- OTS0214 OTW0214
"Die Presse" - Leitartikel: Der coole Mensch und die Domestizierung der Natur, von Michael Prüller
Ausgabe vom 12.03.2011
Wien (OTS) - Die Qualität des Menschen wird daran deutlich, mit
welchem Einsatz er Katastrophen vorbeugt, und wie er sich im
Ernstfall verhält - menschlich nämlich.
Der Mensch ist ein beeindruckendes Wesen. Auch wenn das Beben von
gestern hunderte, vielleicht tausende Leben gekostet hat, zeigt es
den Triumph des Menschen über seine äußeren Verhältnisse. Dass eines
der bevölkerungsreichsten und am dichtesten besiedelten Länder der
Welt das schwerste Erdbeben seiner Geschichte so gut überstehen kann,
ist ein Beweis für die großartigen Eigenschaften des Menschen. Die
Tragik der Todesopfer und der zerstörten Existenzen ist eine Seite
dieser Katastrophe. Die vielen, die dank der Errungenschaften der
modernen Zivilisation überlebt haben - und die Hilfe, die sie
erfahren -, die andere.
Die Historiker, die sich auf Desaster und ihre Bewältigung
spezialisiert haben, haben festgestellt, dass die solidarische
Antwort auf Katastrophen häufiger ist als die egoistische. Der Mensch
ist offenbar darauf programmiert zu kooperieren, oft auf
beeindruckende Weise. Nachdem etwa im Sommer 1943 Hamburg durch
Bomben zu 50 Prozent zerstört wurde, 40.000 Menschen starben und die
Hälfte der Überlebenden aus der Stadt geflohen war, dauerte es
dennoch nur wenige Monate, bis die amerikanische Luftaufklärung
erstaunt feststellte, dass die Produktivität der Stadt schon wieder
zu 80 Prozent hergestellt war. Die Strom- und Gasversorgung sowie der
Eisenbahnverkehr hatten bereits ein paar Tage nach der Katastrophe
schon wieder weitgehend funktioniert.
Oft sind es nicht die Erfolge der Behörden und der planmäßigen
Vorgangsweisen, die beeindrucken, sondern jene der spontan handelnden
Betroffenen selbst. So kam etwa bei den Erdbeben in China 1976, San
Francisco 1989 und Kobe 1995 der weitaus größte Teil der Helfer, die
nach Vermissten suchten und Überlebende bargen, aus der ebenfalls
betroffenen Nachbarschaft.
Das "Desaster Research Center" der Universität Delaware beschreibt
den typischen Verlauf nach einer Katastrophe so: Die Zahl der
freiwilligen Helfer explodiert, Gewalt ist selten, Plünderungen gibt
es nur unter besonderen Umständen, und die allermeisten Menschen
verdanken ihre Rettung dem beherzten Einsatz anderer Überlebender.
Berühmt wurde etwa die Aktion von Anrainern, um die Autofahrer des
kollabierten "Cypress"-Highway in San Francisco mit rasch
zusammengebastelten Leitern und Seilen zu retten.
Die positive Antwort auf die Herausforderung überwiegt also bei
Weitem. In den USA gab es nur viermal innerhalb eines halben
Jahrhunderts so etwas wie Plünderungen am helllichten Tag, darunter
beim Stromausfall in New York 1977 (zwölf Jahre zuvor beim ersten
solchen Ereignis blieb alles ruhig) und beim Hurrikan "Katrina" in
New Orleans. Aber selbst dort war die Hilfsbereitschaft wesentlich
ausgeprägter; der berühmt gewordene Sechsjährige, der fünf
Kleinkinder und ein Baby aus der Gefahrenzone geführt hat, war nur
ein außergewöhnliches Beispiel für den gewöhnlichen Bürgersinn.
Auch Japans Leben mit der ständig drohenden Erdbebengefahr ist ein
Zeichen für die Genialität des Menschen, der es versteht, sich mit
Forscherdrang und Voraussicht die Natur, soweit es geht, untertan zu
machen, durch geeignete Architektur, Notfallpläne, Frühwarnsysteme
usw. Natürlich gibt es Grenzen. Der Umstand, dass die größte Gefahr
nach dem Beben von einem wild werdenden Atomkraftwerk ausgeht,
erinnert daran, dass wir zwar die Natur schon ziemlich gut im Griff
haben, aber die Technik noch nicht.
Die erfolgreiche Domestizierung von Naturkatastrophen gehört dennoch
zu den Widerlegungen der misanthropischen Ansichten vom Menschen, der
in seinem Beherrschungsdrang nur Schaden anrichte und alles ruiniere.
Von Friedrich II. von Preußen ist der Satz überliefert: "Je mehr ich
von den Menschen sehe, umso lieber habe ich meinen Hund." Das sieht
dem alten Miesepeter ähnlich. Dass der Mensch - anders als der Hund -
bewusst das Böse, Schädliche, Egoistische wählen kann, macht ihn doch
umso mehr zur ziemlich coolen Gestalt (Sie verzeihen den altmodischen
Ausdruck), wenn man sieht, dass er sich dennoch in der Regel und in
der Ausnahme überwiegend für das Gute, Nützliche und den anderen
Dienliche entscheidet.
Rückfragehinweis:
chefvomdienst@diepresse.com
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | PPR






