- 03.09.2010, 18:35:12
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"Die Presse" - Leitartikel: Was darf man eigentlich noch sagen?, von Michael Prüller
Ausgabe vom 04.09.2010
Wien (OTS) - Die Fälle Sarrazin und de Gucht zeigen: Nicht alles
ist ein Tabu, was man anständigerweise besser auslässt.
Was darf man eigentlich sagen und was nicht? Diese Frage ist im Fall
Sarrazin und jetzt auch durch Äußerungen des EU-Handelskommissars
Karel de Gucht wieder aufgeworfen worden. Sarrazins Äußerungen dürfen
hier als bekannt vorausgesetzt werden, und de Gucht hat soeben einem
Interviewer gesagt, er solle den Einfluss der jüdischen Lobby in
Washington nicht unterschätzen, und es sei "nicht einfach, selbst mit
einem gemäßigten Juden ein rationales Gespräch über das zu führen,
was sich im Nahen Osten abspielt." Dafür hat der Handelskommissar
Prügel bezogen.
In der Tat ist es heute nicht einfach, die Logik politischer
Korrektheit immer sofort zu durchschauen - wenn man sich nicht die
Mühe macht (oder machen will), auf den Kontext zu schauen. Ganz naiv
wird dann gefragt: Ja was ist denn antisemitisch daran, über eine
jüdische Lobby zu reden? Und warum ist die Rede von einem jüdischen
Gen unkorrekt - wo andere doch auf ihre Gene geradezu stolz sind?
Doch viel zu zimperlich, diese ganze Korrektheit!
Die Antwort auf solche Fragen ist einfach und gar nicht lustig: Dass
man sich dreimal überlegen muss, wie man Kritik an Israel, dem
Judentum und jüdischen Gesprächspartnern formuliert, liegt daran,
dass die Juden über viele Jahrhunderte verfolgt und dann im
versuchten Völkermord akribisch gejagt und umgebracht worden sind.
Diese Wunde heilt langsam, jedenfalls nicht in drei Generationen. Und
dass sie immer noch schmerzt, liegt im Grunde nicht am WJC oder an
Yad Vashem sondern an der nachhaltig monströsen Natur des Holocaust.
Dass jede sonst unbedenkliche Äußerung dann gefährlich wird, wenn es
sich um Jüdisches dreht, ist in der Tat mühsam, manchmal unlogisch,
vielleicht sogar ungerecht. Aber schuld daran sind nicht die heutigen
Tugendwächter der politischen Korrektheit oder Lobbies in Washington,
sondern die Massenmörder von damals. Sie haben einen schwarzen Felsen
in die Geschichte gestellt, in dessen Schatten jeder anständige
Mensch besser auf seine Sprache aufpasst - aus dem Wunsch, nicht zu
verletzen.
Und da sind wir beim eigentlichen Hauptthema des Falls Sarrazin:
Anstand und gute Manieren. Der Mann fliegt ja jetzt nicht aus dem
Vorstand der Bundesbank, weil er der Ansicht ist, dass sich Völker
auch durch ihre Gene voneinander unterscheiden. Sondern weil er sich
schlecht benimmt. Wenn er über muslimische Einwanderer schreibt und
immer wieder lustvoll seine pauschale Verachtung für den
Untersuchungsgegenstand durchblitzen lässt, so ist das keine
notwendige Provokation, um einem Tabuthema Gehör zu verschaffen.
Sondern bloß ein Reflex auf die Berührung mit dem Fremden, die
normalerweise auf die erste Reaktion, die Irritation, folgt.
Zivilisierte Menschen schalten nach dem unwillkürlichen Versuch, das
Irritierende durch Verachtung klein zu machen und in den Griff zu
bekommen, die Ratio ein, die Reflexion. Der verächtliche Stil des
durchaus auch rational argumentierenden Sarrazin ist also eine
Entwicklungsstörung. Wie wenn jemand, der bereits Wurzelziehen und
Gedichtinterpretation kann, immer noch Daumen lutscht. Sein Beitrag
befreit nicht zur Debatte, sondern entwertet diese. Manieren sind
dazu da, Kommunikation und Interaktion zu erleichtern, ihr Fehlen
macht alles nur schwerer. Wer beim Essen schlürft, macht nicht auf
die versalzene Suppe aufmerksam, sondern nur auf sich.
Natürlich sind die Fragen, die Sarrazin aufwirft, relevant, und viele
seiner Antworten sind bedenkenswert. Aber weder die Fragen noch die
Antworten waren bisher tabu oder werden es in Zukunft sein. Daher ist
sein Provozieren weder notwendig noch hilfreich. Wird die Diskussion
um Einwanderung und Islam heute wirklich sachlicher, ernsthafter und
zielorientierter geführt, weil Sarrazin von der fortwährenden
Produktion kleiner Kopftuchmädchen gesprochen hat?
Wir sollten aber auch die Kirche im Dorf lassen: Schlechter Stil soll
nicht sein, muss aber sein dürfen. Man muss das Recht haben, auch das
zu sagen, was man anständigerweise nicht sagen soll. Dass sich
Sensibilitäts-Mangel nicht mit jedem öffentlichen Amt verträgt, ist
klar. Aber der Staatsanwalt sollte jedenfalls draußen bleiben. Der
europäische Trend, immer mehr Äußerungen unter Strafe zu stellen (und
das Schweigen der Zivilgesellschaft dazu), ist beunruhigender als die
Ausritte einzelner Provokateure. Und wenn einmal erkannt ist, dass
hier die eigentliche Freiheitsberaubung heranschleicht, dann sollen
die Sarrazins & Co. bitte mit der Wehleidigkeit aufhören, immer
gleich "Sprechverbot" zu rufen, wenn ihnen bloß ordentlich Widerworte
gegeben werden.
Rückfragehinweis:
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