Die Causa Hebenstreit nach der Verhandlung am 28. Juni 2010
Wien (OTS) - Am 28. Juni 2010 zwischen 19 und 21:45 Uhr fand im
Festsaal des Wiener Rathauses die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen
Franz Hebenstreit statt. Der Freiheitsdenker und -kämpfer und
Demokrat der ersten Stunde war Opfer einer Politjustiz nach der
politischen konservativ-reaktionären Wende nach dem Tod Leopolds II.
geworden. Franz Hebenstreit, dem das Militärgericht den Vorwurf des
Hochverrates gemacht hatte, wurde im Jänner 1795 hingerichtet, sein
Schädel wird - gegen alle heutigen Grundsätze der Zivilisation und
Ethik - im Kriminalmuseum in der Leopoldstadt ausgestellt.
Die Veranstaltung am Montag 28.6. folgte der Dramaturgie einer
Gerichtsverhandlung mit Geschworenen, bei der ein Richtersenat unter
dem Vorsitz von Frau Dr. Beate Matschnig und unter Mitwirkung von
Dekan Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer und Dr. Norbert Gerstberger die
Verhandlungen führte.
Die Argumentation der Verteidigung Franz Hebenstreits, vertreten
durch Univ.-Prof. Dr. H. Ch. Ehalt, ist, dass Österreich durch die
reaktionäre Wende in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts einen
langfristigen groben Schaden erlitten hat. Die "Erste Wiener Moderne"
- Sonnenfels, Born, die Van Swietens, Mozart, Da Ponte und die
Intellektuellen um Riedel und Hebenstreit - wurde gewaltsam beendet.
Die Strafe der Geschichte für die Politjustiz an österreichischen
Freiheitsdenkern und Freiheitskämpfern des späten 18. Jahrhunderts
war die Durchsetzung eines formaljuridischen, letztlich auf dem
Prinzip von Autorität und Weisung beruhenden Gesellschafts- und
Politikbildes. Gemäß diesem Bild hat immer das formale Recht und die
formale Autorität recht, egal wer sie ausübt - natürlich in dieser
Konsequenz auch die Richter, die Handlanger der Nazis und des
Stalinismus und anderer autoritärer Systeme waren und sind.
Die Argumente der Verteidigung:
1. Nach 100 Jahren Aufklärung, nach Voltaire, Diderot, Rousseau,
Franklin konnte man überall in Europa und auch in Österreich wissen,
dass Verfassung, Demokratie, Menschenrechte und unabhängige Richter
die Zukunft einer besseren und gerechteren Gesellschaft sein können
und werden. Vorauseilender Militärrichtergehorsam war daher nicht!
die conditio sine qua non der Zeit.
2. Der damalige Prozess vermischte unzulässig die Grenzen zwischen
konkreten realen Verschwörungsplänen, die nicht vorlagen und den in
Hinblick auf revolutionäre Taten völlig unkonkreten Vorstellungen der
"Verschwörer".
3. Der neue Herrscher Franz I/II und die Richter wollten ein Exempel
statuieren; sie wollten den Boden für Zensur und absoluten Gehorsam
bereiten.
4. Es kam zum Einsatz von auch nach damaligem Recht nicht
beweisfähigen Mitteln und Methoden. Ein Agent provocateur (der
Buchhändler Degen), machte Hebenstreit betrunken und verleitete ihn
zu unbedachten revolutionären Reden.
Die Fragen an die Geschworenen lauteten:
1.) Hauptfrage:
Ist Franz Hebenstreit schuldig, einen Hochverrat dadurch vorbereitet
zu haben, dass er
a) am 21. Juli 1794 in Wien den Plan eines Staatsstreichs äusserte,
wonach dreieinhalbtausend Leute zur Nachtzeit die Stadt erstürmen,
die öffentlichen Kassen in Beschlag nehmen, 300 Aristokraten ermorden
und sich Seiner Majestät des Kaisers bemächtigen sollten,
b) des weiteren das Modell einer Kriegsmaschine nach Frankreich
entsandte,
c) aufrührerische Lieder und Flugschriften verbreitete,
d) Attentatspläne gegen den Monarchen, von denen er Kenntnis
erlangte, seinen Vorgesetzten nicht meldete?
Der Spruch des Gerichtes und die Ergebnisse der Verhandlungen am
28.6.2010
Punkte a) und b) wurden einstimmig verneint, Punkte c) und d) wurden
mehrheitlich verneint.
Freispruch und Konsequenz
Das Gericht sprach Franz Hebenstreit von den damaligen Vorwürfen frei
und würdigte damit die aktuelle Rechtslage und aktuelle ethische
Grundvorstellungen.
Das Urteil wurde am 30.6.2010 von Dr. Beate Matschnig, Dr.
Gerstberger, Univ.-Doz. Dr. Pilgram und Univ.-Prof. Dr. Ehalt an
Herrn Stadtrat Dr. Andreas Mailath-Pokorny übergeben.
Herr Stadtrat Dr. Mailath-Pokorny wurde ersucht dem Wiener
Gemeinderat und Landtag mitzuteilen,
o dass Franz Hebenstreit in der Verhandlung am 28.6.2010 freigesprochen und rehabilitiert wurde; o dass gefordert wird, die Stadt Wien möge bewirken, den Schädel Franz Hebenstreits aus dem Kriminalmuseum herauszunehmen und ehrenvoll beizusetzen; o dass Franz Hebenstreit als Freiheitskämpfer, Freiheitsdenker und Vordenker der Demokratie einen adäquaten Platz in der Erinnerungskultur der Stadt Wien finden möge (Verkehrsflächenbenennung, Anbringung einer Gedenktafel).
Herr Stadtrat Dr. Andreas Mailath-Pokorny hat die Ergebnisse der
Verhandlung mit großem Verständnis, großem Interesse und dem
Versprechen angehört, sie an die zuständigen und entscheidenden
Gremien der Stadt unterstützend weiterzuleiten.
Bewertung
Die TeilnehmerInnen der Verhandlung - RichterInnen, ExpertInnen,
Anklage und Verteidigung - bewerten die Ergebnisse der Verhandlung
wie folgt:
Vorsitzende des RichterInnensenates Dr.Beate Matschnig: Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit sind Werte, die zur Zeit Franz
Hebenstreits nichts gegolten haben und in unserer heutigen Zeit
nichts mehr gelten. Hoffen wir, dass sie wieder zum Leben erweckt
werden und den ihnen gebührenden Stellenwert in unserer Gesellschaft
einnehmen.
Der beisitzende Richter Univ.-Prof. DDr. Heinz Mayer: Staatsgewalt
muss Menschenrecht achten!
Der beisitzende Richter Dr. Norbert Gerstberger: Der Fall Hebenstreit
ist exemplarisch in mehrerer Hinsicht. Er zeigt drastisch die Abkehr
von der josephinischen Reformpolitik und die Angst der herrschenden
Klasse vor den Gedanken der Aufklärung und der französischen
Revolution. Aber er ist vor allem auch ein Beispiel für Handeln einer
gegenüber den Mächtigen willfährigen Justiz! Deshalb hat der
"Freispruch Hebenstreits am 28.6.2010 durch unabhängige Richter"
einen hohen Symbolwert. Die Politik sollte dies anerkennen und im
Sinne unserer Forderungen an den Wiener Landtag handeln!
Der Verteidiger Univ.-Prof. Dr. Hubert Christian Ehalt: An die Stelle
von freier und auf Befreiung und Emanzipation ausgelegter
intellektueller Kultur traten Zensur, vorauseilender
Monarchengehorsam und Opportunismus. Aus dieser Trinität "Zensur,
Gehorsam, Opportunismus" wurde eine österreichische Staatsmentalität,
die bis in die Gegenwart weiterwirkt.
Der Kronzeuge der Verteidigung Univ.-Prof. Dr. Ernst Wangermann: Ich
vermute, dass für viele Anwesende Hebenstreits soziale Ideen und die
Einzelheiten über die Rolle der geheimen Polizei in der Anklage und
Verurteilung Neuland waren.
Die Zeugin Mag. Andrea Maria Dusl: Demokratie und Republik sind
kontinuierliche Projekte. Sie müssen durch Arbeit an der Idee und
Diskurs über ihre Mechanismen am Leben gehalten werden. Geschichte
ist Teil der Gegenwart, die Rehabilitierung Franz Hebenstreits
gelebte Demokratie. Und die Arbeit geht weiter!
Der Zeuge und Gutachter Univ.-Doz. Dr. Arno Pilgram: Mein Schluss aus
der Veranstaltung ist, dass menschliche Relikte (Schädel etc.) von
Hingerichteten, seien sie "gewöhnliche" oder "politische Verbrecher",
in einem ordentlichen Verfahren abgeurteilt oder einem politischen
oder Fehlurteil zum Opfer gefallen, in einem öffentlichen Museum
keinen legitimen Platz haben.
Der Vertreter der Anklage Univ.-Prof. Dr. Werner Ogris: Von mir aus,
wenn es unbedingt sein soll, ein Ehrengrab für Hebenstreit oder
seinen Schädel oder/und eine nach ihm benannte Verkehrsfläche in
Wien; aber das Schicksal oder Gott oder wer oder was immer dafür
zuständig sein mag, bewahre uns vor Hebenstreits Utopien - und vor
jenen, die darauf hineinfallen.
Der Autor des eben erschienenen Buches Mag. Alexander Emanuely: Der
endgültige Tod tritt durch Vergessen ein. In der Wiener Vorlesung vom
28. Juni 2010 waren Franz Hebenstreits Ideen wieder gültig, Franz
Hebenstreit wieder lebendig.
Das Buch zum Fall
ist in der Reihe "Enzyklopädie des Wiener Wissens" der Wiener
Vorlesungen in der Bibliothek der Provinz erschienen und von
Alexander Emanuely verfasst. "Ausgang: Franz Hebenstreit (1747-1795).
Schattenrisse der Wiener DemokratInnen 1794"; es kostet 15 Euro.
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Jakob Scholz
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