- 16.10.2009, 18:41:35
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"Die Presse"-LEITARTIKEL: Bekennen wir uns zum Neid!,von MICHAEL FLEISCHHACKER
Ausgabe vom 17.10.2009
Wien (OTS) - Die SPÖ fürchtet eine Neiddebatte. Genau so hat die
 Bourgeoisie immer gegen Arbeitnehmerrechte gekämpft.
Andreas Schieder, Staatssekretär im Finanzministerium, ist gegen ein
 "Transferkonto", wie es sein Ressortchef Josef Pröll vorgeschlagen
 hat. Das würde nur eine "Neiddebatte" schüren, meint Schieder.
 Gleichzeitig rät er dem Regierungspartner, weniger auf die
 Sozialleistungen für die Bedürftigen zu schauen und mehr auf die
 fetten Prämien der Manager.
Das bedeutet immerhin, dass Andreas Schieder den Sinn des
 Pröll-Vorschlages verstanden hat.
Die "Neiddebatte", vor der sich der Staatssekretär mit dem Habitus
 des Parteisekretärs fürchtet, muss ja nicht erst künstlich geschürt
 werden. Sie ist längst im Gang, und zwar vollkommen zu Recht: Der
 Unterschied zwischen den niedrigen Arbeitseinkommen und jenen
 Einkommen, die man in Kenntnis aller Pfade durch den österreichischen
 Beihilfendschungel von Bund, Ländern und Gemeinden erzielen kann,
 ohne einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ist eine gefühlte Null.
Würde man das "Transferkonto" in einigen exemplarischen Fällen dazu
 benutzen herauszufinden, was sich da an Beihilfen auf allen Ebenen
 aufsummieren kann, so erbrächte das zwei mögliche Ergebnisse:
 Entweder es zeigte sich, dass die gefühlte Null eine gefühlsmäßige
 Täuschung ist. Und dass die Wirkung der Transferleistungen, die in
 den Armutsstatistiken der Menschlichkeitsindustriellen von Wifo und
 Caritas üblicherweise nicht aufscheinen (!!), tatsächlich so gering
 ist, dass zu Neid kein Anlass besteht. Oder aber es zeigte sich, dass
 Prölls Verdacht zutrifft, wonach es heute schon Steuerzahlerfamilien
 gibt, die über weniger Einkommen verfügen als
 Nichtsteuerzahlerfamilien.
Der Neid der betroffenen Familien wäre eine vollkommen verständliche
 Reaktion auf die Fakten. So wie auch der Neid vieler Arbeitnehmer im
 Niedriglohnbereich, die sehen, dass arbeitslose Kollegen mit ein paar
 Stunden Pfusch die Woche auf dasselbe Geld kommen. Und auch noch
 erklären, sie seien doch nicht dämlich, wegen der paar hundert Euro
 Unterschied zwischen Lohn und Arbeitslosengeld 40 Stunden in der
 Woche zu buckeln. Auch der Neid junger Arbeitnehmer, die mit
 spärlichen Einkommen wachsende Familien zu ernähren haben, auf die
 Pensionisten ist gerechtfertigt.
Vielleicht begreifen geistig flinkere Sozialdemokraten beizeiten, was
 ihr lustiger Finanzstaatssekretär ihnen mit seinem Hinweis auf die
 "Neiddebatte" angetan hat: Genau das war das Argument der Bourgeoisie
 gegen jeden Versuch der Arbeitnehmerbewegung, eine gerechte
 Beteiligung aller am wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft zu
 erreichen.
Es gibt eine Rechtfertigung für den Neid: den Kampf um Gerechtigkeit.
 Und so gesehen ist es kein Wunder, dass heute ein postmoderner
 Karrieresozialdemokrat den Wunsch von jungen arbeitenden Menschen,
 sich den gerechten Anteil am von ihnen miterwirtschafteten Wohlstand
 gegen die Ansprüche der Nutznießer einer aus den Fugen geratenen
 Versorgungsbürokratie zu sichern, mit derselben Terminologie
 bekämpft, mit der die Industriellen des 18. und 19. Jahrhunderts die
 Arbeiterbewegung bekämpften.
Was Josef Pröll in seiner Rede angesprochen hat, ist in der Tat die
 Zukunftsfrage schlechthin: Was heißt Gerechtigkeit? Gerechtigkeit
 heißt heute mehr als je zuvor Generationengerechtigkeit. Die
 Sozialleistungen und Pensionen von heute werden mit Zwangskrediten
 bezahlt, die wir unseren Kindern aufbürden.
Wen es interessiert, der soll sich weiter den Kopf darüber
 zerbrechen, ob Herr Pröll nun als Kanzlerkandidat oder als
 Finanzminister gesprochen hat, was es bedeutet, dass die Chefin der
 Spanischen Hofreitschule in der ersten Reihe gesessen ist, und ob
 Herr Faymann jetzt böse, geschwächt oder eh immer noch freundlich
 ist.
Wirklich entscheidend ist die Erkenntnis, die wir der vollkommenen
 Offenheit eines sozialdemokratischen Staatssekretärs verdanken: Die
 Konservativen von heute sitzen in der SPÖ, und sie verteidigen die
 nicht aus eigener Leistung begründeten Ansprüche einer privilegierten
 Minderheit. Die Freiheitskämpfer von heute, die für ihre Arbeit einen
 gerechten Anteil am Gesamtertrag fordern, haben keine politische
 Vertretung. Weil die ÖVP sich ständig sozialdemokratisiert hat, weil
 die Grünen lange genug gewartet haben, um auch eine Partei der Alten
 sein zu können, und die Freiheitlichen sich zwischen Links- und
 Rechtspopulismus nicht entscheiden können.
Mit Josef Prölls Rede ist das Thema wieder auf dem Tisch. Jetzt heißt
 es, sich zum Neid zu bekennen. Sonst wird es nichts mit der
 Gerechtigkeit.
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