- 05.12.2008, 08:15:16
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Zeitzeugen Drei neue Biographien im Hohen Haus vorgestellt
Wien (PK) - Nationalratspräsidentin Barbara Prammer lud heute zur
Präsentation dreier Biographien ins Hohe Haus. An der Veranstaltung
nahm ein ebenso zahlreiches wie prominentes Publikum teil, darunter
Mitglieder der Familien Harpner und Wodak.
Prammer freute sich, die Anwesenden zu einer besonderen
Buchpräsentation begrüßen zu können. Die in den Büchern dargestellten
Persönlichkeiten hätten in mannigfacher Weise Einfluss auf die
österreichische Geschichte genommen, Harpner als Anwalt, Björkman als
sozial engagierte Frau und die Wodaks als politische Akteure.
Zudem kündigte die Präsidentin an, dass ab dem kommenden Jahr die
Buchpräsentationen im Hohen Haus, die schon bisher großes Interesse
gefunden hätten, in einem neuen Format gestaltet werden würden.
Brigitte Bailer verwies in ihrem Vortrag auf Parallelen in den
Biographien der ProtagonistInnen der vorgestellten Bücher. Sie alle
waren mit einem sich zunehmend radikalisierenden Antisemitismus
konfrontiert, die Lebensläufe aller Familien waren durch die
Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Exil geprägt. Vor diesem
Hintergrund würdigte sie die wichtigen Beiträge von Gustav Harpner,
Walter und Erna Wodak und Elsa Björkman-Goldschmidt zur
österreichischen Kultur und Politik, die bis heute für unser Land von
Bedeutung seien.
Im anschließenden Autorengespräch erzählte Renate Schreiber, sie sei
eigentlich durch Zufall auf das Werk von Elsa Björkman gestoßen und
habe sich gewundert, dass dieses nicht auf Deutsch vorliege. Umso
mehr sei es ihr ein Bedürfnis gewesen, die Erinnerungen auch dem
Wiener Publikum zugänglich zu machen, zumal Wien das Lebensthema
Björkmans gewesen sei.
Bernhard Kuschey wiederum zeigte sich von den Debatten im Exil
überaus beeindruckt und erklärte, er sei nach seiner Arbeit über die
Familie Federn eingeladen worden, auch über die Wodaks eine
Doppelbiographie zu verfassen, und diese Aufgabe habe er gerne
übernommen, da einem eine solche Chance nicht oft geboten werde.
Ilse Reiter sagte, sie sei im Rahmen einer Arbeit über die
Habsburgergesetze erstmals auf den Namen Harpner aufmerksam geworden,
und die Person dieses Anwalts habe sie ob der Integrität, des Muts
und des Engagements so beeindruckt, dass sie es sich zum Ziel gesetzt
habe, den Menschen und seine Arbeit im Rahmen eines Buches zu
würdigen.
Ilse Reiter verfasste eine monumentale Biographie über Gustav Harpner
(1864-1924), dessen Leben stellvertretend für die Emanzipation der
Arbeiterklasse und ihr Hineinwachsen in einen demokratischen Staat
steht. Geboren in der mährischen Hauptstadt Brünn als Sohn eines
reichen Tuchhändlers, studierte Harpner in Wien Rechtswissenschaften
und begann 1893 seine Tätigkeit als Rechtsanwalt. Er war in die
Kanzlei eines Verwandten eingetreten, zu dessen Partner er rasch
avancierte.
Nur kurze Zeit später machte Harpner allgemein auf sich aufmerksam,
als er so genannte "Anarchisten" (die real Repräsentanten der damals
noch in weiten Kreisen verfemten Sozialdemokratie waren) in
politischen Prozesses gegen die Willkür des Staates verteidigte,
indem er auf den speziellen Charakter dieser Klassenjustiz verwies
und die Machinationen der Staatsmacht aufdeckte.
Dadurch fiel Harpner dem anerkannten Führer der österreichischen
Sozialdemokratie, Victor Adler, auf, der ihn zu seinem privaten
Rechtsanwalt machte. Bald vertrat Harpner auch die
sozialdemokratischen Gewerkschaften, die Arbeiterpresse und
prominente links stehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens
wie den nachmaligen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Thomas
Garrigue Masaryk.
Ungeachtet seines politischen Engagements trat Harpner, wiewohl einer
jüdischen Familie entstammend, 1902 in die katholische Kirche ein und
ließ seine Söhne in der Folge im Wiener Schottengymnasium erziehen.
Angesichts des Kulturkampfes zwischen Arbeiterbewegung und
katholischem Klerus ein durchaus bemerkenswerter Schritt. Dies
freilich hinderte Harpner nicht daran, seine Mandanten gegen
allfällige Anwürfe aus den Reihen des politischen Katholizismus mit
aller Verve zu verteidigen, was ihm seitens der Christlichsozialen
das Epitheton "juristischer Parteidogmatiker der Sozialdemokratie"
eintrug.
1917 stand Harpner mehr denn je im Licht der Öffentlichkeit,
verteidigte er doch den Sohn seines Freundes Victor Adler, Friedrich,
vor dem Ausnahmegericht, nachdem der Filius im Oktober 1916 den
Ministerpräsidenten, den er für das Elend der österreichischen
Völker, die im großen Kriege verbluteten, verantwortlich machte, in
einem Wiener Innenstadthotel erschossen hatte. Der Prozess wurde
nicht zuletzt durch Friedrich Adlers berühmte Rede vor dem
Ausnahmegericht zur Cause celebre, die weltweites Aufsehen erregte.
Schon zwei Jahre zuvor hatte Harpner den Abgeordneten Otto Glöckel
vor dem Militärgericht verteidigt, dem Hochverrat vorgeworfen wurde.
Anders als Adler wurde Glöckel, nicht zuletzt durch die
beeindruckende Zeugenaussage von Karl Seitz, freigesprochen. Harpner
bot Seitz daraufhin scherzhaft an, dass er, wenn er jemals das
Interesse an der Politik verlieren sollte, jederzeit bei ihm in der
Kanzlei anfangen könne.
Nach der Ausrufung der Republik im November 1918 avancierte Harpner,
der mit vielen Geistesgrößen der damaligen Zeit wie Arthur
Schnitzler, Karl Kraus, Kolo Moser und Hermann Bahr befreundet war,
zum Anwalt der Republik. Konkret war er mit der Ausarbeitung der
Habsburgergesetze betraut. 1919 wurde Harpner Mitglied des
Verfassungsgerichtshofes, 1922 zudem Präsident der
Rechtsanwaltskammer. Betraut mit einer Vielzahl von Aufgaben wurde er
mitten aus der Erfüllung derselben durch einen plötzlichen und
unerwarteten Tod im Sommer 1924 gerissen. Die Hauptrede bei der
Trauerfeier hielt Bürgermeister Seitz. 1938 war Harpners Familie zur
Flucht aus Österreich gezwungen, sein Sohn, der ihm als Rechtsanwalt
nachgefolgt war, blieb auch nach dem Krieg in England, da ihm in
Österreich keine Zukunftsperspektive geboten worden war.
Ilse Reiter, 1960 in Wien geboren, studierte nach der Matura daselbst
Rechtswissenschaften und arbeitete sodann als Assistentin an der
Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Seit 1997 ist sie außerordentliche
Universitätsprofessorin am Institut für Rechts- und
Verfassungsgeschichte in Wien. Mit ihrer engagierten, fundierten und
detailreichen Biographie setzt sie nicht nur Gustav Harpner ein
bleibendes Denkmal, sie setzt auch neue Standards auf dem Gebiet der
biographischen Forschung, an denen zukünftige AutorInnen zu messen
sein werden.
Ilse Reiters Buch "Gustav Harpner 1864-1924" ist im Wiener Verlag
Böhlau erschienen, umfasst 608 Seiten und ist im Buchhandel
erhältlich.
Erinnerungen und Betrachtungen
Das Buch "Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-
Goldschmidt" ist eine von Renate Schreiber edierte und übersetzte
Auswahl aus insgesamt sechs Erinnerungsbüchern der schwedischen
Autorin. Sie konzentriert sich dabei auf die Kapitel, in denen
Björkman-Goldschmidt Erlebnisse und Beobachtungen ihrer Zeit in Wien
aus fünf Jahrzehnten festgehalten hat. Elsa Björkman, geboren 1888 in
Linköping, war während des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester in
der Betreuung von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen in
Russland und Sibirien tätig. Von 1919 bis 1923 arbeitete sie für die
schwedische Hilfsorganisation "Rettet das Kind" in Wien. 1921
heiratete sie Dr. Waldemar Goldschmidt, Arzt am Wiener Rothschild-
Spital und arbeitete als schwedische Auslandskorrespondentin.
1938 war sie gezwungen, mit ihrem jüdischen Ehemann Wien zu
verlassen. Im Winter 1945/46 kehrte sie aus Schweden für "Rettet das
Kind" nochmals nach Wien zurück und verbrachte hier auch die
folgenden Winter bis 1949. Zuletzt engagierte sich Björkman-
Goldschmidt 1956 in der Betreuung von Ungarnflüchtlingen. Begegnungen
mit Menschen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten und mit
Persönlichkeiten der österreichischen Politik und Kultur und ihre
Kenntnis der Tätigkeit schwedischer Hilfsorganisationen in Wien
lieferten ihr Material für zahlreiche Bücher. Björkman-Goldschmidt
starb 1982. Das Buch umfasst 419 Seiten, ist im Verlag Böhlau
erschienen und im Buchhandel erhältlich.
"Die Wodaks. Exil und Rückkehr" von Bernhard Kuschey ist eine
ambitionierte "Doppelbiographie" des Ehepaares Erna und Walter Wodak.
Erna Mandel, geboren 1916, entstammte einer Wiener Rabbinerfamilie.
Nach ihrer Vertreibung 1938 konnte sie 1939 ihr Chemiestudium in
England fortsetzen und abschließen. Walter Wodak wurde 1908 in Wien
geboren. Seine politische Tätigkeit begann bereits in der
Mittelschule, er setzte sie während seines Studiums der
Rechtswissenschaften im linken Flügel der SDAP fort. Nach dem
"Anschluss" floh er nach England und lernte in Liverpool Erna Mandel,
die seine zweite Ehefrau wurde, kennen.
Nach seiner Rückkehr nach Österreich bekleidete Wodak wichtige
Funktionen als Diplomat in Belgrad, als politischer Direktor des
Außenministeriums, als österreichischer Botschafter in Moskau und
schließlich als Generalsekretär des Außenamtes. 1974 verstarb er
unerwartet. Kuschey thematisiert den schwierigen
Selbstfindungsprozess des sozialistischen Exils in England und greift
dabei in Darstellungen allgemeiner politischer und gesellschaftlichen
Entwicklungen weit über die Biographie seiner Protagonisten hinaus.
Seine Darstellung eröffnet interessante Perspektiven und
Fragestellungen, das Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu
den Intellektuellen jüdischer Abstammung in ihren Reihen betreffend,
wie auch zur Geschichte der Linksopposition in der österreichischen
Sozialdemokratie. Die Publikation ist im Braumüller-Verlag
erschienen, hat 384 Seiten und ist gleichfalls im Buchhandel
erhältlich.
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