Wien (PK) - Eine Kette runder historischer Jahrestage machen das Jahr
2008 für Österreich zu einem historischen Gedenkjahr. Im März hatte
Hitlers Einmarsch im Jahr 1938 Gelegenheit zu einer kritischen
Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der österreichischen
Geschichte geboten. Im Herbst geht es um die Gründung der Republik
Österreich im November 1918. Bis dahin wirft die
"Parlamentskorrespondenz" einen historischen Blick auf ein anderes
markantes Datum in der Geschichte des österreichischen
Parlamentarismus: das Ende der bäuerlichen Untertänigkeit. Der erste
Beitrag zu diesem Thema erschien am 29. Juli (PK Nr. 710)
Am 8. August 1848 starteten in der Winterreitschule der Wiener
Hofburg die Verhandlungen über die Aufhebung der bäuerlichen
Untertänigkeit auf der Basis des "Kudlichschen Antrages". Auf
Anregung anderer Abgeordneter legte Kudlich seinen Text in
"verbesserter" Form vor. Ausdrücklich wollte Kudlich die Arbeit der
Patrimonialgerichte nun nicht mit der Aufhebung der Untertänigkeit
beenden, sondern provisorisch bis zum Tätigwerden staatlicher
Gerichte aufrecht erhalten. Alle Einschränkungen der persönlichen
Freiheit seien aufzuheben und die feudalen Lasten nicht mehr zu
leisten - "die nähere Ausführung über diesen Punkt" wollte Kudlich
aber einem speziellen Ausschuss überlassen, "der auch über die
allfällige Entschädigung und über die Art und Weise des
Gerichtswesens zu entscheiden habe". Den Reichstagsbeschluss über die
Aufhebung der Untertänigkeit wollte Kudlich möglichst bald als
Proklamation veröffentlichen, um der weiter zunehmenden Unruhe
entgegenzuwirken, "die aus allen Provinzen gemeldet wird".
Rasche Aufhebung der Untertänigkeit und aller feudalen Lasten und
dann gründliche Klärung aller Detailfragen zwischen den ehemaligen
"Herren" und "Untertanen" in einem Reichstag-Ausschuss - so wollte
Kudlich vorgehen. Einige Abgeordnete meldeten aber Zweifel an der im
ersten Überschwang gewählten Vorgangsweise an. Sie lasen Kudlichs
neuen Text als Gesetzentwurf, den man vielleicht doch nicht gleich im
Plenum, sondern gründlich in einem Ausschuss verhandeln sollte. Die
Mehrheit des Hauses bekräftigte aber ihre ursprüngliche Entscheidung
in der Hoffnung, die dringliche Sache im Plenum schneller entscheiden
zu können.
Die Hoffnungen auf zügige Verhandlungen zerschlugen sich aber bald.
Denn die Zahl der "Amendments", der umfangreichen und komplexen
Verbesserungs-, Abänderungs- und Zusatzanträge, die Vizepräsident
Strobach vorgelegt wurden, wuchs rasch auf 60 an. Zwar bestand
weiterhin Einigkeit darin, alle Unterschiede zwischen "Herren" und
"Untertanen", zwischen "Herrengrund" (Dominikalland) und
"Bauerngrund" (Rustikalland) sowie alle persönlichen Lasten der
Bauern, namentlich die allgemein als entwürdigend empfundene Robot,
zu beseitigen und die Details - ganz im Sinne Kudlichs - danach in
einem Ausschuss zu klären. Was aber ein Detail sei - an dieser Frage
schieden sich im Reichstag die Geister.
Anders als der schlesische Bauernsohn Kudlich hielten viele
Abgeordnete die Entschädigungsfrage für eine politische
Grundsatzfrage, die gleichzeitig und gleichrangig mit der Aufhebung
der bäuerlichen Untertänigkeit vom Reichstagsplenum entschieden
werden sollte und nicht erst danach in einem Ausschuss, wie Kudlich
vorschlug. Während bäuerliche Abgeordnete und liberale Demokraten
nicht nur die Robot, sondern auch "dingliche" Grundlasten - mit
wenigen Ausnahmen - ohne Entschädigung aufheben wollten, verlangten
die Vertreter der Grundherren eine Entschädigung für den Verlust der
bäuerlichen Grundabgaben. Dieser Konflikt wurde mit jedem Antrag
schärfer, den Abgeordnete in der Absicht vorlegten, eine umfassende
Grundentlastung durch Aufhebung aller Lasten zu erreichen. Fast jeder
der 60 Anträge machte die Liste mit aufzuhebenden Verpflichtungen und
"Giebigkeiten" der Bauern länger und länger.
Der Oberösterreicher Emil Vacano beantragte die Aufhebung weiterer
Natural-, Arbeits- oder Geldleistungen und verlangte gemeinsam mit
Abgeordnetem Josef Doliak auch die Aufhebung der Gebühren, die Bauern
bei Besitzveränderungen zahlen mussten. Abgeordneter Karl Zimmer
wollte auch unterbäuerliche Schichten, "Inleute" und "Häusler"
entlasten und forderte gemeinsam mit den Abgeordneten Karl Herzig und
Matthias Hawelka, den "Bierzwang" aufzuheben, die Verpflichtung von
Bauern, Bier nur vom Grundherren zu beziehen. "Jeder soll sein Bier
kaufen dürfen, wo er will" sagte auch Abgeordneter Josef Latzel, der
zudem die Aufhebung des Branntweinzwanges beantragte. Abgeordneter
Johann Kratochwil forderte die Aufhebung von Lasten, die Grundherren
mancherorts Handwerkern und Händlern aufgebürdet hatten. Die
Abgeordneten Eduard Claudi und Josef Bininger gingen noch weiter und
interpretierten die Schutzgelder, die böhmische Städte seit dem
Mittelalter an Herrn und Ritter zahlten, als feudale Lasten, die es
mit der Untertänigkeit aufzuheben gelte.
Abgeordneter Johann Kaim wandte sich gegen die bäuerliche Pflicht,
"Hirschenheu" zu liefern, während Abgeordneter Blonski gegen
Pottaschenabgaben, Ufer- und Mühlenzinse wetterte. Abgeordneter
Johann Lhota drängte auf die Aufhebung der Weber- und Garnzinse im
Riesengebirge, Kudlichs Landsmann Karl Schneider wollte speziell die
Not der Gebirgsbauern Schlesiens lindern. Die Abgeordneten Alois
Praschak und Franz Watzel zielten auch auf vertraglich geregelte
Formen der Robot, auf "Surrogate der Robot", wie sie sagten. Josef
Hahn mahnte gleiche Rechte für Bauern im Fischerei- und Jagdrecht ein
und Abgeordneter Vinzenz Stieber brach eine Lanze für strittige
Eigentumsrechte bäuerlicher Gemeinden.
Dazu kam das heikle Problem bäuerlicher Rechtsansprüche gegenüber den
Grundherren. Die Abgeordneten Ignaz Streit und Ivan Kapuszak
beantragten die Erhaltung bäuerlicher Holzrechte in herrschaftlichen
Wäldern. In armen Gegenden, so argumentierten sie, wäre der Vorteil
aus der Aufhebung der Untertänigkeit für die Bauern geringer als der
Verlust durch die Aufhebung bäuerlicher Servitute.
Und schließlich nahmen auch Darstellungen der unterschiedlichen
Verhältnisse in den einzelnen Ländern der Monarchie breiten Raum ein.
Man hörte von Robot-Konflikten, Bauernaufständen und Reformversuchen
in Galizien, die zur Vorgeschichte und Geschichte der Revolution von
1848 zählten. Abgeordneter Ivan Kapuszak schilderte in einer sehr
emotionalen Rede das Elend der Bauern in Galizien, ihren harten
Alltag und die drakonischen Strafen, mit denen "Untertanen" dort
rechnen mussten: "Robot die ganze Woche und der Sonntag in Eisen". -
"Zu stark aufgetragen", replizierte Abgeordneter Marian Dylewski
seinem Landsmann, räumte aber Missstände auf den Gütern ein.
Gemeinsam mit den Abgeordneten Max Machalski, Franz Trecieski,
Valerian Podlevsky und Franz Smolka sowie mit Unterstützung des
Abgeordneten Anton Goriup bemühte sich Marian Dylewski, die
Verdienste galizischer Grundbesitzer und freisinniger Adeliger im
Landtag von Lemberg um die Aufhebung der Robot darzulegen. Einzelne
Grundbesitzer hätten die Robot bereits ohne Entschädigung aufgehoben,
berichtete Franz Smolka. Abgeordneter Josef Kral brachte die
speziellen Untertänigkeitsverhältnisse in der ehedem osmanischen
Bukowina zur Sprache.
Ganz anders stellten sich die Verhältnisse im Westen dar: Tirol kenne
schon lange kein Untertänigkeitsverhältnis und auch keine
Patrimonialgerichtsbarkeit mehr, erklärte der Innsbrucker Abgeordnete
Johann Hasslwanter, es bestünden aber immer noch beträchtliche
Grundlasten. Abgeordneter Ferdinand Thinnfeld berichtete, in der
Steiermark habe der teilweise frei gewählte Landtag alle Lasten
aufgehoben und warte auf Klärung der Entschädigungsfrage durch den
Reichstag. Daher regte Abgeordneter Alois Praschak an, Vorarbeiten
der Provinziallandtage zum Thema "Aufhebung der Untertänigkeit" im
Reichstag zu berücksichtigen. Die Schlussfolgerung des Abgeordneten
Marian Dylewski, angesichts der großen Unterschiede in den Provinzen
sollte man auf eine einheitliche Aufhebung der Untertänigkeit
verzichten und diese Aufgabe "föderativ" den Provinziallandtagen
überlassen, lehnten die Abgeordneten Hasslwanter und Ludwig Löhner ab
- die Landtage seien nicht demokratisch legitimiert, lautete deren
Argument.
Angesichts der zahlreichen Anträge hatte Hans Kudlich schon in der
19. Sitzung am 11. August 1848 an die Abgeordneten appelliert, die
Ziele der "Dringlichkeit und Gründlichkeit" vereinbar zu machen, und
vorgeschlagen, die Verhandlungen zu unterbrechen, um einen
gemeinsamen Hauptantrag auszuarbeiten. Vizepräsident Strobach sah
aufgrund der geltenden Geschäftsordnung aber keine Möglichkeit, das
Einbringen und Begründen von Verbesserungsanträgen zu unterbrechen
und forderte Kudlich auf, einen Antrag vorzulegen, damit die
Abgeordneten beurteilen könnten, ob er sie zum Verzicht ihrer Anträge
zu veranlassen vermöge. Dieser "Verbesserungsantrag" der Abgeordneten
Hans Kudlich, Ludwig Löhner, Emil Vacano, Franz Hein, Johann Umlauft
erweiterte Kudlichs "verbesserten" Antrag um zusätzliche Details und
sah ausdrücklich vor, im Ausschuss zu klären, "ob und welche
Entschädigung zu leisten sei"
Die Befürworter einer Entschädigung der Grundbesitzer waren aber auch
mit Kudlichs zweitem "Verbesserungsantrag" unzufrieden, weil er die
für sie zentrale Entschädigungsfrage prinzipiell offenlasse und damit
ein 200 Millionen-Kapital in Frage stelle, lautete etwa die Kritik
des Abgeordneten Thinnfeld. Auf diese und auf andere Weise arbeiteten
die Reichstagsabgeordneten im Laufe des August immer stärker den
interessenpolitischen Kern der Debatte um die Aufhebung der
bäuerlichen Untertänigkeit heraus. (Fortsetzung am 26. August)
(Schluss)
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