• 23.08.2007, 10:05:44
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Wahlreform 1907: Die Straße gibt das Tempo vor Am 28. November 1905 wird die Wahlreform angekündigt

Wien (PK) - In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen
wir heute den letzten Beitrag über die große Debatte zur Wahlreform
vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik
neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament
historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über
den Weg zur Wahlreform des Jahres 1907.

Am 28. November 1905 marschieren Hunderttausende von Arbeitern über
die Ringstraße. Geordnet nach Wahlkreisen, Bezirken und Betrieben
fordern sie mit Spruchbändern, Parolen und Transparenten das
allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht. Fünf Stunden, von
10 Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags ziehen diese Massen am
Parlamentsgebäude vorbei und machen damit klar, dass die Zeit des
alten Kurienparlaments vorüber ist. Im Haus selbst wird an diesem Tag
Victor Adler als neuer Abgeordneter angelobt. Nun hat auch der
Anführer der Sozialdemokraten sein Mandat. Und er wird es nützen, um
sich gleich an seinem ersten Tag als Volksvertreter zu Wort zu
melden.

Gautsch: Regierung muss in dieser grundlegenden Frage vorangehen

Die Sitzung beginnt mit einer Erklärung des Ministerpräsidenten Paul
Gautsch, der ankündigte, seine Regierung werde demnächst dem Hause
eine Regierungsvorlage bezüglich eines allgemeinen, gleichen,
direkten und geheimen Wahlrechts vorlegen. Sie sei von sich aus zu
dem Schluss gekommen, dass eine solche Reform notwendig sei, einer
allfälligen Ermunterung zu dieser Haltung habe es gar nicht bedurft:
"Am allerwenigsten vermochten Demonstrationen ihr Tempo zu
beschleunigen." Unter Anspielung auf das Abstimmungsergebnis vom 6.
Oktober meinte Gautsch, der Regierung "genügte das Votum des hohen
Abgeordnetenhauses, ihr genügte aber auch die klare Erkenntnis, dass
ein Ministerium, das in einer so grundlegenden Frage nicht
voranginge, auf den Namen einer Regierung keinen Anspruch hätte."

Das neue Parlament müsse ein getreuliches Abbild aller kulturellen
und nationalen Kräfte des Staates sein, diese müssten im Hause ihre
Vertretung finden. Insbesondere betonte Gautsch dabei, dass ein
Verlust einmal erworbener Rechte unstatthaft sei, sodass die
Forderung, die Wähler müssten des Lesens und Schreibens kundig oder
wirtschaftlich selbständig sein, zurückgewiesen werden müsse, da die
betreffenden Personen ja im Rahmen der 5. Kurie bereits das Wahlrecht
besäßen. Einzig die Sesshaftigkeit sei ein relevantes Kriterium,
müsse man doch eine größere Beständigkeit in den Wahlbezirken
garantieren und den nationalen Besitzstand schützen können.

Gautsch sprach von der Entschlossenheit der Regierung, die Wahlreform
zu einem guten Ende zu bringen, und deshalb werde die Regierung alles
aufbieten, um bis zum Februar eine entsprechende Vorlage ins Haus
einzubringen, denn: "Uns leitet dabei die Überzeugung, dass es eine
staatserhaltende Maßregel ist, wenn durch eine Wahlreform möglichst
weite Schichten der Bevölkerung in erhöhtem Maße am staatlichen
Regimente interessiert werden."

Adler: Der Heilige Geist kam ausnahmsweise von unten

Victor Adler (1852-1918), seit 1888 Chef der Sozialdemokraten,
konzedierte dem Regierungschef, die Zeichen der Zeit endlich erkannt
zu haben: "Der Herr Ministerpräsident ist so lernfähig, als man es
von einem Bürokraten alter Schule verlangen kann. Man darf seine
Erwartungen ja nicht allzu hoch spannen. Wir sind auch von dem Herrn
nicht verwöhnt, aber in den paar Monaten hat sich der Herr
Ministerpräsident gut entwickelt." Doch die Demonstrationen vor dem
Hause hätten ja gezeigt, "wie recht Baron Gautsch gehabt hat, als er
erklärte, es sei einfach ausgeschlossen, die Wahlreform nicht zu
machen".

Natürlich konnte Adler die Behauptung des Regierungschefs, die
Regierung sei aus eigenen Erwägungen zu dem Schluss gekommen, das
Land brauche eine Wahlreform, nicht unkommentiert lassen: "Oh gewiss.
Wir sind ganz unschuldig daran, und wir glauben wirklich, der Heilige
Geist ist über ihn gekommen. Aber wir vermuten, dass diesmal der
Heilige Geist ausnahmsweise statt von oben von unten gekommen ist."

Heftige Kritik übte Adler freilich an der geplanten Verlängerung der
Sesshaftigkeit. Dies würde nicht nur wohl erworbene Rechte verletzen,
sondern auch die Interessen der Saisonarbeiter gröblich
vernachlässigen. Prinzipiell aber glaube er fest an die Wahlreform,
nicht aus Vertrauen zu Baron Gautsch und der Regierung, sondern aus
Vertrauen in die Arbeiterklasse in Österreich.

Widerstand und Kritik im Herrenhaus

Drei Tage später, am 1. Dezember 1905, stellte Gautsch seine Pläne
auch im Herrenhaus, dem er selbst angehörte, vor. Doch dort stieß er
auf wenig Verständnis. Graf Thun (1849-1913) etwa meinte, nur in
ruhigen Zeiten und unter Ausschluss jedweder Einflussnahme von außen
sei es möglich, ein Vorhaben dieser Größe im Interesse und zum Wohle
des Staates ins Werk zu setzen. Es sei traurig, "dass die Tritte von
Tausenden von Menschen, die über die Ringstraße gezogen sind, die
Resonanz zu der gleichzeitigen Erklärung des Herrn
Ministerpräsidenten abgegeben haben".

Der Fürst Auersperg (1859-1927) sah den Staat ob solcher Pläne in
Gefahr, denn sein soziales Gefüge würde nachhaltig zerrüttet: "Dieser
Vorgang verschlimmert vollständig die Machtverhältnisse zwischen den
einzelnen sozialen Gruppen im Staate. Das Bedenklichste daran ist
aber, dass er den Beteiligten eine Machtfülle vorspiegelt, die sie
gar nicht haben und die sie ein andermal zu Ausschreitungen
veranlassen kann, die ihnen dann blutig heimgezahlt werden."

Heinrich Lammasch (1853-1920), ins Herrenhaus berufener
Universitätsprofessor, der 1918 der letzte kaiserliche
Ministerpräsident werden sollte, votierte dafür, eine Wahlpflicht
einzuführen und die Sesshaftigkeit jedenfalls auszuweiten, während
Ernst Plener (1841-1923), Sohn des berühmteren Ignaz Plener, seine
Kollegen davor warnte, sich selbst aufzugeben: "Es ist ein
charakteristischer Zug der Zeit, dass die besitzenden Klassen, die
heute im Besitz der öffentlichen Rechte sind, die
Widerstandsfähigkeit und den eigenen Halt verlieren und mit einer
gewissen leichten Hand mit geringer Überlegung Positionen aufgeben,
deren Wert für die eigene Existenz sie gar nicht realisieren, bis sie
durch die Entwicklung in trauriger Weise aufgeklärt werden, wie
leicht sie sich selbst aufgeopfert haben."

Die Debatte im Herrenhaus ging damit zu Ende, ohne dass sich auch nur
eine einzige Stimme für die Pläne der Regierung erhoben hätte.
Dennoch entschloss sich Gautsch dazu, die Wahlreformvorlage im
Februar 1906 in das Parlament einzubringen, wobei er gänzlich darauf
verzichtete, in diese Reform irgendeinen Bezug zum Herrenhaus
einzufügen, womit er die zweite Kammer des Parlaments zu besänftigen
trachtete.

Am 7. März 1906 begann die erste Lesung der Vorlage, die sich bis zum
23. März 1906, an welchem der Entwurf dem zuständigen Ausschuss
zugewiesen wurde, hinzog. Beinahe 60 Redner sollten sich in der Folge
zu Wort melden, viele von ihnen würden später ihre Argumentation im
Rahmen der zweiten Lesung wiederholen.

Grabmayr: Das Wahlrecht ist kein natürliches Recht

Erster Kontraredner war der Südtiroler Großgrundbesitzer Karl
Grabmayr (1848-1923), der den Deutschnationalen nahestand. Seiner
Meinung nach sei das Wahlrecht kein natürliches Recht, das einer
Person durch Geburt zustehe, sondern eine öffentliche Funktion, die
man im Interesse der Allgemeinheit wahrnehme. Daher dürfe man sich
bei der Verleihung des Wahlrechts ausnahmslos von den Rücksichten auf
das Staatswohl leiten lassen, und dies sei hier augenscheinlich nicht
der Fall: "Die Wahlrechtsfrage ist nichts anderes als die Frage nach
der zweckmäßigsten Verteilung der politischen Macht. Das gleiche
Wahlrecht aber drängt den politischen Einfluss der gebildeten und
besitzenden Schichten in unbilliger Weise zurück." Die politische
Macht werde "ausschließlich den Minder- oder Nichtbesitzenden und den
minder- oder nichtgebildeten Massen in die Hand gespielt".

Gefördert würden durch diese Vorlage mithin nur die Interessen der
untersten Volksschichten, wohingegen wichtige Zweige der
Volkswirtschaft, etwa Großhandel und Großindustrie, ohne
entsprechende Vertretung blieben: "Das gleiche Stimmrecht ist nicht
nur der Triumph der Demokratie, es ist auch die Prämierung der
Demagogen, die den Massen das Blaue vom Himmel herunter versprechen
und ehrliche, gewissenhafte Mitbewerber durch maßlose Ausnützung
populärer Schlagworte überbieten."

Außerdem könne, fuhr Grabmayr fort, von einem allgemeinen ohnehin
nicht sprechen, denn es werde der "besseren Hälfte der Bevölkerung,
den Frauen" ebenso vorenthalten wie den Soldaten. Und "auch die unter
Kuratel stehenden Personen, denen man das Wahlrecht vorenthält, haben
häufig nichts Schlimmeres verbrochen als manche österreichische
Regierung". Mit der Vorlage würde nur die Vorherrschaft der Slawen
und ein massiver Machtzuwachs der Sozialdemokratie einhergehen, und
beides könne er nicht befürworten, schloss Grabmayr.

Schlegel: Eine zweite Stimme für die Steuerzahler

Der christlich-soziale Josef Schlegel (1869-1955) plädierte für ein
Pluralwahlrecht. Konkret sollten alle Steuerzahler eine zweite Stimme
haben. Das sei kein Widerspruch zur christlichen Lehre, denn der
Mensch "wird gewertet als Mensch durch das allgemeine Wahlrecht. Aber
nachdem wir eben auch zu einem Staatshaushalte, zu jedem Haushalte,
zu jedem Landeshaushalte auch Steuern und Umlagen brauchen, so müssen
wir auch auf die Steuerträger etwas Rücksicht nehmen". Dies könne nur
auf der Grundlage der direkten Steuern geschehen, meinte Schlegel,
der sich zudem für eine Verlängerung der Sesshaftigkeit und für eine
Wahlpflicht aussprach, wie es dem Programm der Christlichsozialen
entsprach.

Weiskirchner: Wahlrecht plus Wahlpflicht

Sein Fraktionskollege Richard Weiskirchner (1861-1926), der 1912 zum
Wiener Bürgermeister avancieren sollte, widersprach der Befürchtung,
in einem auf Basis eines gleichen Wahlrechts gewählten Reichsrat
seien die besitzenden Schichten nicht mehr vertreten. Er verwies auf
den deutschen Reichstag, wo bei gleichem Wahlrecht von 397
Abgeordneten nur drei Arbeiter, aber 100 Gutsbesitzer, 72
Gewerbetreibende und 83 Beamte ein Mandat innehätten.

Seine Partei trete daher entschlossen für das neue Wahlrecht ein,
bestehe aber gleichzeitig auf der Einführung einer Wahlpflicht: "Ich
stehe auf dem Standpunkt, dass das Wählen nicht bloß die Ausübung
eines individuellen Rechts, sondern die Erfüllung einer sozialen
Pflicht ist. Mag vielleicht zu Anfang des konstitutionellen Lebens
das Wählen als ein Recht erschienen sein, später wird es zu einer
Pflicht. Der Wähler wählt ja nicht für sich, er wählt im Interesse
der Gesellschaft und des Staates, dem er angehört, und ich stehe auf
dem Standpunkt, dass öffentliche Rechte auch öffentliche Pflichten im
Gefolge haben."

Fink: Möglichst gleichmäßige Vertretung der Interessengruppen

Weiskirchners Auffassung wurde in der Folge von einem weiteren
Mitglied seiner Fraktion, dem Vorarlberger Bauern Jodok Fink (1853-
1929), unterstützt. Fink sprach sich zudem gegen jede Form von
Bildungszensus aus, da er nicht der Meinung sei, das Parlament
funktioniere am besten, wenn recht viele Advokaten, Professoren und
Doktoren in ihm vertreten seien. Viel mehr gehe es darum, dass die
einzelnen Interessengruppen möglichst gleichmäßig vertreten seien.

Formanek: Eine Lanze für das Frauenwahlrecht

Emanuel Formanek (1869-1929), tschechisch-volkssozialistischer
Mandatar aus Prag, brach eine Lanze für das Frauenwahlrecht und
sprach sich gegen eine Verlängerung der Sesshaftigkeit aus, weil dies
die böhmischen Arbeiter krass benachteiligen würde, die dorthin
ziehen müssten, wo die Arbeit sei. Mit einer Sesshaftigkeitsklausel
würden sie in jedem Fall ihr Wahlrecht verlieren, weshalb die
Sesshaftigkeit als Kriterium gänzlich ausgeschieden werden sollte,
forderte Formanek.

Sternberg: Vorlage ein Willkürakt der Regierung

Nachdem sich Victor Adler auch in dieser Debatte zu Wort gemeldet
hatte, wandte sich Adalbert Sternberg (1868-1930) mit aller Vehemenz
gegen die Vorlage, der er sogar die legistische Grundlage absprach.
Er bezeichnete die Vorlage als "brutalen Willkürakt" und warf der
Regierung vor, sie handle einzig und allein im Interesse der
Sozialdemokratie. Verschlimmert werde die Angelegenheit durch den
Umstand, dass der Kaiser diesem Treiben tatenlos zusehe. Dieser
Entwurf hätte nie das Haus erreichen dürfen, "wenn diese Dynastie
noch auf dem Standpunkt der Legalität steht".

Mit dieser Vorlage hätten die Habsburger abgedankt, die
Sozialdemokraten den Thron erklommen: "Ich gehe soweit, dass, wenn
ich heute einen Hofwagen mit goldenen Rädern sehe, ich schaue, ob
nicht der Schuhmeier drinsitzt." Die Arbeiter regierten das Land
ohnehin schon, meinte Sternberg, der deduzierte, dass die Regierung
von der Presse, diese aber von ihren Druckern abhängig sei, und die
Drucker seien die Kerntruppe der Sozialdemokratie. Für diesen Entwurf
gehörte die Regierung jedenfalls an den "Pranger der Schande",
schloss Sternberg.

Sustersic: Das Kurienwahlrecht ist tot

Schließlich hielt der slowenische SLS-Mandatar Ivan Sustersic (1863-
1925) fest, dass in der gesamten Debatte niemand das Kurienwahlrecht
verteidigt habe, was zeige, dass diese Institution tot sei. Zudem
wies Sustersic die Argumentation konservativer Kreise zurück, mit dem
Eintreten für das allgemeine Wahlrecht besorge man das Geschäft der
Sozialdemokratie. Als Vertreter einer christlichen Volkspartei wolle
er "die Arbeiter den sozialdemokratischen Organisationen entreißen,
sie fachlich organisieren und für die christliche Sozialreform
gewinnen. Dazu aber brauchen wir das allgemeine und gleiche
Wahlrecht. Geistige und politische Strömungen lassen sich nicht durch
Wahlkurien bekämpfen."

Schließlich wurde am 22. März 1906 ein Antrag auf Schluss der Debatte
angenommen, wonach nur noch je ein Generalredner pro und contra zu
Wort kamen. Die Gegner der Wahlreform kürten Karl Stürgkh (1859-
1916), der 1911 Ministerpräsident werden sollte, zu ihrem
Fürsprecher. Stürgkh sah in der Vorlage eine ernste und schwere
Gefahr für die Erhaltung der Monarchie, nicht zuletzt aus
außenpolitischen Gründen. Durch eine solche grundlegende Änderung der
bisherigen Verhältnisse würde die Kontinuität der österreichischen
Außenpolitik in Frage gestellt sein, was sich zwangsläufig auf die
Beziehungen zum Ausland auswirken müsste. Auch hätte ein solcher
Beschluss ernste Konsequenzen auf das Verhältnis zu Ungarn, warnte
Stürgkh.

Dessen ungeachtet wurde die Vorlage dem Wahlreformausschuss
zugewiesen, der ihn in 63 Sitzungen bis zum November 1906 beriet. Der
Bericht des Ausschusses wurde dem Plenum zugeleitet, und am 5.
November 1906 begannen die Beratungen über den gegenständlichen
Bericht. (Schluss)

Hinweis: Über den Weg zum neuen Wahlrecht siehe die PK-Ausgaben mit
den Nummern 31, 41, 162, 164, 166, 293, 420, 427, 458, 462, 466, 618,
621, 622 und 623. Mit PK Nr. 625 ist die Serie abgeschlossen.

(Schluss)

Eine Aussendung der Parlamentskorrespondenz
Tel. +43 1 40110/2272, Fax. +43 1 40110/2640
e-Mail: pk@parlament.gv.at, Internet: http://www.parlament.gv.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NPA

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