• 01.06.2005, 18:51:06
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Historiker Jagschitz gibt Kampl teilweise Recht: es gab schwere Ungleichbehandlung

"Presse"-Artikel vom 2.6.2005/von Martin Fritzl

Wien (OTS) - "Schwere Ungleichbehandlung"
NS-Täter wurden anfangs hart verfolgt, später aber eher lasch.
Wien. Gab es tatsächlich eine "Nazi-Verfolgung" nach dem Krieg, wie
der Kärntner Landtagspräsident Jörg Freunschlag sagt? Oder gar eine
"brutale Naziverfolgung" (Bundesrat Siegfried Kampl)? "Die
Entnazifizierung ist eine Sache, die viele Facetten hat", sagt der
Wiener Historiker Gerhard Jagschitz: "Auch wenn das viele nicht hören
wollen: Kampl hat Recht, wenn auch nur in einem kleinen Segment."

Die Entnazifizierung in der ersten Phase nach dem Krieg sei durchaus
ernst genommen und sehr hart gehandhabt worden. Es gab 43
Todesurteile, von denen 36 auch tatsächlich vollstreckt wurden;
Internierung von Nationalsozialisten ohne Gerichtsbeschluss - etwa in
den Lagern Glasenbach oder Wolfsberg; 150.000 Beamte wurden entlassen
oder nicht mehr in den öffentlichen Dienst übernommen; den Ausschluss
von NSDAP-Mitgliedern bei der ersten Nationalratswahl 1945 sowie die
Einteilung zur Zwangsarbeit. So waren die heute so vielgerühmten
"Trümmerfrauen", die den Schutt von den zerbombten Häusern
wegräumten, zumeist ehemalige Nationalsozialistinnen, die zu diesen
Arbeiten zwangsweise eingesetzt wurden.

Schwere Ungleichbehandlung
"Man kann das nicht als Unrecht bezeichnen", sagt Jagschitz. "Aber es
hat eine schwere Ungleichbehandlung gegeben. Wer am Anfang dran kam,
wurde wesentlich härter bestraft - so er es sich nicht richten
konnte." Auch diese erste Phase der Entnazifizierung sei nämlich
bereits durch umfangreiche Interventionen gekennzeichnet gewesen. So
wie in der NS-Zeit jeder seinen "guten Juden" hatte, hatte nun jeder
seinen "braven Nationalsozialisten".
Der erste Schwung der Entnazifizierung erlahmte, mit dem zweiten
NS-Gesetz kam die Einteilung in "belastete" und "minderbelastete".
Diese an sich vernünftige Einteilung führte dann dazu, dass in der
zweiten Welle die Entnazifizierung nur sehr lasch weitergeführt
wurde.

Ausweg Parteibeitritt
Die Entnazifizierungskommissionen waren von Parteienvertretern
besetzt, was dazu führte, dass der Beitritt zu einer Partei ein
sicherer Weg war, der Härte des Gesetzes zu entgehen. "Da begann dann
die große Unanständigkeit", sagt Jagschitz. "Alle Parteien, SPÖ, ÖVP
und KPÖ haben ihre Nationalsozialisten gehabt und sich für sie
eingesetzt." Auch schwer belastete Nationalsozialisten seien dann
nicht mehr angeklagt oder sofort nach dem Prozess begnadigt worden.

Der Grund für die Parteien, so zu agieren, liegt auf der Hand: Es
ging um 600.000 ehemalige Nationalsozialisten, die wieder an Wahlen
teilnehmen durften. Zusammen mit den Familienmitgliedern ein großes
Wählerpotenzial, auf das niemand verzichten wollte und konnte.
Auffällig waren deutlich unterschiedliche Urteile. So wurden für
dasselbe Delikt, nämlich Denunziation, in Wien im Schnitt Urteile von
2,5 Jahren, in Linz Urteile von 1,3 Jahren Haft verhängt. Einen
Einfluss hatte dabei auch die Stellung der Besatzungmächte. Während
anfangs die Amerikaner auf strenge Bestrafung drängten und die Russen
eher bremsten, war es in einer späteren Phase genau umgekehrt.

Diese Entwicklung hatte durchaus auch Folgen auf das öffentliche
Klima im Land. Jagschitz nennt es das "Einsickern deutschnationalen
Gedankenguts" und eine "Rekonstruktion nationalsozialistischer
Positionen". In vielen Institutionen - etwa in der Wirtschaft oder
der Wissenschaft - kam es zu einer personellen Kontinuität. Auch,
weil in vielen Bereichen nur so der Betrieb aufrecht zu erhalten war.

Frühe Begnadigung
Insgesamt kam es zu 23.000 Prozessen gegen Nationalsozialisten. Dabei
wurden 13.564 Haftstrafen verhängt. 30mal lautete das Urteil
lebenslang, 650 Kerkerstrafen umfassten ein Ausmaß von fünf bis 20
Jahren. Doch vor der Weihnachtsamnestie des Jahres 1955 befanden sich
nur noch neun Verurteilte in Haft. Allein in den Jahren 1952 bis 1955
wurden mehr als 100 NS-Täter begnadigt.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445

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