• 20.07.2022, 22:00:17
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TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: "Klare Kante nach dem langen Schweigen", von Michael Sprenger

Ausgabe vom Donnerstag, 21. Juli 2022

Utl.: Ausgabe vom Donnerstag, 21. Juli 2022 =

Innsbruck (OTS) - Alexander Van der Bellen reagiert auf das
Misstrauen gegen die Regierung – und findet klare Worte. Doch hätte
er dies nicht früher tun müssen? Jetzt hört man den Wahlkämpfer. Als
Bundespräsident hätte er mehr Mut zeigen können.

Seit Wochen leidet die Bevölkerung unter der Teuerungswelle und
der ungesicherten Energieversorgung. Zudem reiht sich ein
Korruptionsvorwurf an den nächsten. Bei der Pandemie ist immer noch
kein Ende in Sicht. Die Bundesregierung von ÖVP und Grünen laviert zu
all diesen Themenkomplexen bloß herum, verfolgt keine
nachvollziehbare Linie. Bundeskanzler Karl Nehammer flüchtet sich in
unpassende Vergleiche und muss dabei zur Kenntnis nehmen, dass selbst
Parteifreunde von ihm abrücken. Die Folgen sind bekannt. Noch nie
hatte in Österreich eine amtierende Regierung so eine geringe
Zustimmung. Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik hat
einen historischen Tiefststand erreicht.
Doch zu alledem gab sich der Bundespräsident in den vergangenen
Wochen wortkarg. Zu lange!
Jetzt ändert er seinen Kurs. Egal ob in Interviews oder in seinen
Eröffnungsreden, wie zuletzt bei den Festspielen in Erl und Bregenz,
zeigt Alexander Van der Bellen klar Kante. Er bezieht Position, übt
Kritik an der Regierung, fordert von ihr „verständliche und
transparente Kommunikation“ ein.
Das alles war und ist notwendig. Viele Bürgerinnen und Bürger
fühlen sich mit ihren Ängsten alleingelassen. Das Staats­oberhaupt
reagierte also adäquat.
Muss man ihn dafür loben? Nein! Er sagte, was man von einem
Bundespräsidenten erwartet. Trotzdem bleibt ein fahler Nachgeschmack.

Denn vieles deutet darauf hin, dass hier mehr der wahlkämpfende
Alexander Van der Bellen gesprochen hat, weniger das Staatsoberhaupt.
Es stimmt, Van der Bellen muss hier einen Spagat schaffen – zwischen
Wahlkampf und Würde des Amtes. Dass er sich bei seinem Werben für
eine zweite Amtszeit weigert, mit seinen möglichen Kontrahenten in
eine TV-Konfrontation zu gehen, ist nachvollziehbar. Die Gefahr, die
Institution des Amtes des Bundespräsidenten nachhaltig zu
beschädigen, ist zu groß, wenn man sich die bisherige Liste von
möglichen Gegenkandidaten vor Augen hält. Doch auf der anderen Seite
ist es feig, zu den Fehlleistungen der Regierung oder ihrer einzelnen
Regierungsmitglieder zu schweigen. Er schwieg zu lange zu den
ÖVP-Korruptionsvorwürfen, er schwieg zu lange zu den aktuellen
Themenkomplexen. So als hätte er Angst davor gehabt, mit Blick auf
die Wiederwahl die ÖVP zu verärgern. Da hätte Van der Bellen durchaus
mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen können. In einer zweiten
Amtszeit sollte er dies jedenfalls korrigieren. Im Namen der
Republik.

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