TIROLER TAGESZEITUNG "Analyse" vom 6. Mai 2022 von Karin Leitner „Neue Juden“: Eine unfassbare Niedertracht
Innsbruck (OTS) - Seit 1998 gibt es einen nationalen Tag gegen Gewalt und Rassismus, jeweils am 5. Mai. Der sechs Millionen Opfer der Nazis wird gedacht. So war das auch gestern bei einer Veranstaltung im Parlament. Das Datum bezieht sich auf die Befreiung aus dem KZ Mauthausen 1945. Was sich dort und andernorts jahrelang abgespielt hat, ist bis heute unfassbar. Jüdinnen und Juden wurden stigmatisiert, erniedrigt. Zuerst wurde ihnen Hab und Heim genommen, dann das Leben. In einer Todesmaschinerie selbst ernannter „Herrenmenschen“. Die Bilder von den Gasöfen, abgemagerten Menschen, die die KZ-Hölle überstanden haben, dokumentieren die Gräuel.
Und dann das im heutigen Österreich: Gegner der Corona-Vorgaben tragen bei Protestmärschen Armbinden mit dem „Judenstern“. Solche, die sich nicht gegen das Virus impfen lassen, qualifizieren sich als „die neuen Juden“. FPÖ-Chef Herbert Kickl ortete Parallelen zum Nationalsozialismus, in sozialen Netzwerken wurden Foto-Montagen geteilt, die das Tor zum Lager Auschwitz mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ zeigen. Welch Affront gegenüber jenen, die die Naziverbrechen erlebt, den Holocaust überlebt haben, wie die jetzt 92-jährige Lucia Heilman. „Unbegreiflich“ sei das, sagt sie. Das ist es.
Sich in einem Land mit allen Rechten, ergo auch der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, auf eine Stufe mit den Menschen zu stellen, die geschunden, als „lebensunwert“ befunden und „ausgemerzt“ wurden, ist perfid, unerträglich.
Und es belegt, dass die Propaganda der Neo-Nazis fruchtet. Als Nährboden nutzen sie die Pandemie. Die Zahl der hiesigen antisemitischen Vorfälle steigt. 585 gab es 2020, der Höchststand seit Beginn dieser Dokumentation.
Nicht die, die nun den gelben Stern tragen, müssen sich vor etwas fürchten, Jüdinnen und Juden müssen sich wieder ängstigen – vor derlei Corona-Protestlern und den Rechtsextremen, die sie orchestrieren. Ein erschreckendes Faktum so viele Jahre nach der Shoa – und den vermeintlichen Lehren für alle daraus.
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