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Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 5. April 2022. Von Floo Weißmann. "Enthemmt".

Innsbruck (OTS) - Das Vorgehen des russischen Militärs in der Ukraine erinnert zunehmend an Tschetschenien und Syrien.Die Suche nach einem gesichtswahrenden Ausweg für Kremlchef Putin dürfte sich erledigt haben.

Butscha. Der Name des Vorortes von Kiew wird womöglich ins kollektive Gedächtnis eingehen als ein weiteres Synonym für Kriegsgräuel. Was genau dort stattgefunden hat, muss eine unabhängige Untersuchung klären. Die Bilder und Berichte legen zumindest nahe, dass russische Invasionstruppen Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübt haben.
Auch aus anderen Teilen der Ukraine, die unter russischer Kontrolle standen oder stehen, häufen sich Berichte über Entführungen, Vergewaltigungen, Folter, Exekutionen und Plünderungen. Sie können im Einzelnen nicht geprüft werden, aber sie fügen sich zu einem schrecklichen Gesamtbild.
Enthemmte Soldaten und lokale Kommandeure spiegeln eine enthemmte politische und militärische Führung. Sie hat diesen Angriffskrieg beschlossen und führt ihn mangels militärischer Erfolge mit immer größerer Grausamkeit – von Bomben auf zivile Ziele bis zu Hunger als Kriegswaffe. Das erinnert an das Vorgehen des russischen Militärs in Tschetschenien und Syrien: Wer sich nicht beugt, wird systematisch vernichtet.
Dass jemals Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, ist unwahrscheinlich. Auch Demokratien haben eigene Kriegsverbrechen nicht angemessen aufgearbeitet; im autoritären Russland ist dies noch weniger zu erwarten. Und bisher spricht nichts für eine Destabilisierung der russischen Führung. Ein guter Teil der russischen Elite und Bevölkerung dürfte im Gegenteil die Weltsicht des Kreml teilen, dass Russland sich gegen eine vermeintliche westliche Bedrohung wehren muss. Informationskontrolle und Repression sorgen dafür, dass dies auch so bleibt.
Konsequenzen haben die Berichte über Kriegsverbrechen aber für den weiteren Verlauf des Krieges selbst. Die Bereitschaft der Ukraine und des Westens, sich mit Russland auf Kompromisse einzulassen, sinkt weiter. Und die Suche nach einem gesichtswahrenden Ausweg für Kremlchef Wladimir Putin, von der in einer früheren Phase des Konflikts die Rede war, dürfte sich erledigt haben.
Auf der Gegenseite kann Putin erst recht nicht mehr zurück. Gemessen an dem, was Russland mit einer anderen Politik heute sein könnte, hat er sein Land an einen Abgrund geführt. Das muss er durch Beute kaschieren. Sein neues Kriegsziel dürfte sein, die Gebietsgewinne im Osten und Süden der Ukraine auszuweiten und abzusichern. Ein Waffenstillstand würde dann die faktische Teilung des Landes einzementieren. Das dürfte für Kiew und den Westen inakzeptabel sein. Die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende durch Verhandlungen war nie groß. Nun ist sie in den Straßen von Butscha gestorben.

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