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TIROLER TAGESZEITUG, Leitartikel: "Abschied von der Lebenslüge", von Wolfgang Sabaltnig

Ausgabe vom Dienstag, 8. März 2022

Innsbruck (OTS) - Wir haben es uns mit der Neutralität bequem eingerichtet. Sie ist aus dem gemeinsamen Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher nicht wegzudenken. Zu Ende gedacht haben wir sie aber nie.

Schon das Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 verrät viel über den Umgang mit dem liebsten sicherheitspolitischen Versatzstück des Landes: Österreich erklärt „aus freien Stücken“ seine immerwährende Neutralität. „Aus freien Stücken“? Na ja. Die Neutralität war das Vehikel, mit dem die österreichischen Verhandler der damaligen (sowjet-)russischen Führung die Unabhängigkeit ihres Landes abkauften.
Als die Neutralität aber einmal in Kraft war, haben wir es uns mit ihr gut eingerichtet. Militärisch neutral, politisch nach Westen ausgerichtet. Anders als das Neutralitäts-Vorbild Schweiz trat Österreich rasch der UNO und später der EU bei. Die „Blauhelme“ der Friedenstruppen wurden zu einem Symbol der Sicherheits- und Neutralitätspolitik. Die Solidarität war geboren. Ebenso symbolträchtig war der „Wehrigel“: Diese Figur aus der Kreativabteilung des Heeres warb für den Wehrwillen im Land. Solidarität übt Österreich weiterhin. Der Wehrigel hingegen hat seine Stacheln verloren. Bundesheer und Republik haben bei der Friedensdividende der jüngeren Vergangenheit voll mitgeschnitten und Investitionen in die Rüstung vernachlässigt. Der Trittbrettfahrer war geboren: Für die Sicherheit sorgt das Umfeld.
Militärs werden nicht müde, auf diesen Mangel hinzuweisen. Die Politik beschäftigt das Heeresministerium aber lieber mit Sesselrücken bei der x-ten internen Reform.
Nur als der politische Zufall vorübergehend einen General an die Spitze des Ressorts brachte, ließ dieser den Bedarf auflisten. Das Ergebnis war eine für österreichische Verhältnisse maßlose Wunschliste der Militärs. Doch selbst nach einem Reality-Check bliebe der Befund dramatisch.
Neutral ist Österreich so gesehen schon lange nicht mehr – zumindest nicht nach dem Vorbild Schweiz. Das eigene Land zu verteidigen, wäre dem Bundesheer so gut wie unmöglich.
Die Ukraine-Krise könnte ein Anlass sein, die sicherheitspolitische Lebenslüge zu überdenken. Diese besteht übrigens nicht darin, dass Österreich neutral ist. Dafür lassen sich gute Gründe finden, auch als Mitglied der EU. Die Lebenslüge besteht darin, dass Neutralität billiger zu haben ist als der Beitritt zur NATO.
Jetzt die Diskussion über die Neutralität für beendet zu erklären, mag daher der Stimmung im Land geschuldet sein. Von der Verpflichtung, die Finanzierung der Sicherheitspolitik nachhaltig zu erhöhen, entbindet sie aber niemanden. Nicht den türkisen Kanzler. Nicht den grünen Regierungspartner. Nicht die Opposition.

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