TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: "Es ist nicht Russlands Krieg", von Michael Sprenger
Ausgabe vom Mittwoch, 9. März 2022
Innsbruck (OTS) - Es ist Putins Krieg. Der kaltblütige Machtpolitiker trägt die Verantwortung. Nicht das russische Volk. Es gilt achtsam zu sein, damit aus der Wut über Putins Angriff auf die Ukraine kein Hass gegen die russische Bevölkerung entsteht.
Es herrscht Krieg. In Europa. Der Krieg ist noch ein begrenzter. Schlimm genug für die ukrainische Bevölkerung. Sollen wir also den Krieg weiter anfeuern – mit Kriegsrhetorik und dem Wiedererwecken von Feindbildern? Sodass
er sich zu einem Weltenbrand entfacht?
Nein, so schallt uns die Antwort im Brustton der Überzeugung entgegen. Doch glaubhaft vernehmen wir dies vor allem von Militärs, die wissen, was auf dem Spiel steht, weniger von Politikern, weniger auch von einigen Journalisten.
Aber ein wenig das Feuer schüren gegen Russland? Sicher, wenn wir weiter vom Überfall Russlands auf die Ukraine reden, dann werden wir vielleicht bald gar nicht merken, wenn in Teilen der Bevölkerung – auch hierzulande – der Hass hochkocht gegen die russische Bevölkerung, gegen die russische Kultur, gegen alles Russische. „Jeder Schuss ein Russ!“ Sind wir noch so weit entfernt von der Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs?
Es ist nicht Russlands Krieg, es ist der Krieg, der einzig und allein einen Verantwortlichen kennt: Wladimir Putin. Der skrupellose Autokrat, der längst wie ein Diktator agiert, er trägt die Verantwortung, nicht das russische Volk. Der Journalist Deniz Yücel, der in der Türkei verfolgt wird, hat als Präsident der deutschen Schriftstellervereinigung PEN die Antwort gegeben: „Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin, Tolstoi oder Achmatowa.“ Also darf es nie ein Verbrechen sein, russische Literatur zu lesen und zu lieben, Werke von Tschaikowsky und Schostakowitsch aufzuführen – auch nicht zum Verurteilen geeignet ist es, sich an russischen Sportlern zu ergötzen – oder russische Gäste zu bewirten.
Dürfen wir aber nicht von Sportlern und Künstlern verlangen, sich gegen Putin zu stellen? Vielleicht von Anna Netrebko, die sich, ausgestattet mit einem österreichischen Pass, im Kreml hofieren lässt und andernorts sicher leben kann? Aber alle anderen, die in St. Petersburg oder in Moskau ihr Leben riskieren, wenn sie den Krieg anprangern, und es vielleicht trotzdem tun, da sollten wir in den warmen Stuben nicht moralisch urteilen. Was uns aber zustünde, wäre eine kritische Auseinandersetzung mit jenen Politikern und Unternehmern, die so gerne eigennützig Putins Nähe suchten. Vielleicht sollten wir künftig hellhörig sein, wenn sich die Architekten ihres späteren Reichtums als „Brückenbauer“ bezeichnen. Es herrscht Krieg in Europa. Es ist Putins Krieg. Er denkt und handelt in seiner Logik als Machtpolitiker kaltblütig, konsequent und rational. Es ist sein Krieg – es ist nicht der Krieg Russlands.
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