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TIROLER TAGESZEITUNG "Leitartikel" Ausgabe vom 23. Februar 2022, von Floo Weißmann: "Der Gram des Unterlegenen"

Innsbruck (OTS) - Der Westen hat es verabsäumt, Russland in nachhaltige Strukturen einzubinden. Nun stehen die Zeichen in der Ukraine auf weitere Eskalation. Putin könnte damit das Gegenteil von dem erreichen, was er anstrebt.

Kremlchef Wladimir Putin hat im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen die nächste Eskalationsstufe gezündet. Die Anerkennung der Separatistengebiete als unabhängige Staaten – samt Einmarsch russischer „Friedenstruppen“ – verstößt nicht allein gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen Sicherheitsgarantien, die Moskau der Ukraine einst gegeben hatte.
Die Zeichen deuten darauf hin, dass weitere Eskalationsstufen folgen werden. Putin will Russlands Vorherrschaft in Osteuropa wiederherstellen. In der Ukraine, wo Putin die Wiege des Russentums verortet, kommt zur Großmachtpolitik ein emotional-nationalistisches Element hinzu. Er betrachtet sie als im Grunde russisch und spricht ihr die Legitimität als souveräner Staat ab. Allerdings verfügt Putins Russland nicht über hinreichend Soft Power – also Attraktivität –, um freiwillige Partner zu umwerben. Ihm bleibt deshalb nur der militärische Druck.
Der Westen ist an dieser Entwicklung nicht unbeteiligt. Der Gram des Unterlegenen birgt den Kern der nächsten Konfrontation. Die heutige Europäische Union wurde einst als Friedensprojekt entwickelt, um diesen Kreislauf zu durchbrechen. Doch nach dem Ende des Kalten Kriegs haben Amerikaner und Europäer die Lehren der Geschichte ignoriert und es verabsäumt, Russland in nachhaltige Strukturen einzubinden.
Triumphalismus des Westens reicht aber nicht als Erklärung für dessen Ausdehnung nach Osten. Viele von Moskaus ehemaligen Vasallen suchten Hilfe und Schutz im Westen. Diejenigen, die der EU und der NATO beigetreten sind, stehen heute wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wesentlich besser da als die Ukraine. Sie werden sich durch Putins Vorgehen in der Ukraine bestätigt fühlen.
Der Kremlchef zählt gern die Sünden der USA auf, aber er hat aus ihnen die falschen Schlüsse gezogen. Der Völkerrechtsbruch im Irak hat Amerika nicht stärker gemacht, sondern ein geopolitisches Desaster hinterlassen und das Ende der von den USA dominierten Weltordnung eingeläutet. Putins Großmacht-Projekt könnte nun ein ähnliches Schicksal erleiden. Russlands Militär mag in der Lage sein, die Ukraine zu überrennen, aber nur zu einem hohen politischen und wirtschaftlichen Preis. Nebenbei fördert­ Putin eine ukrainische Identität in Abgrenzung zu Russland, eint den Westen und verschafft sogar der zuletzt dauerkriselnden NATO wieder eine neue (= die alte) Daseinsrechtfertigung.
Zurück kann Putin aber auch nicht mehr, was die Lage so gefährlich macht. Europa steht möglicherweise vor einem neuen Abschnitt seiner Geschichte, der geprägt ist vom Auslaufen der Friedensdividende und einer neuen Frontstellung.

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