TIROLER TAGESZEITUNG "Leitartikel" Dienstag, 26. Jänner 2016, von Christian Jentsch: "Der Fluch der falschen Kriege"
Innsbruck (OTS) - Der Nahe Osten droht zu implodieren. Aus den Trümmern falscher Kriege entstiegen neue Monster. Nun sind Millionen Menschen auf der Flucht und klopfen an die Tür Europas.
Hunderttausende haben sich aus den in Schutt und Asche liegenden Bürgerkriegsländern des Nahen Ostens auf den Weg ins gelobte Europa gemacht. Und viele weitere werden ihnen noch folgen. Doch in Europa regiert längst die Angst. Die Angst vor Überforderung, die Angst vor Überfremdung. Und – genährt durch Anschläge radikaler Extremisten – die Angst vor dem Islam. Die Flüchtlinge sind in Europa nicht mehr willkommen, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel steht mit ihrem „Wir schaffen das“ längst mit dem Rücken zur Wand. Die Grenzbalken fallen. Man müsse vielmehr die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern, heißt es in den zurechtgelegten Sonntagsreden. Wie wahr! Doch ein Blick auf die Schlachtfelder des Nahen Ostens – gestern wie heute – legt ganz anderes nahe. Und entlarvt die zur Schau gestellte Hilfsbereitschaft als Akt der Heuchelei.
Der Nahe Osten droht zu implodieren, Länder wie Syrien und der Irak existieren längst nur noch auf der Landkarte. Und aus den Trümmern der von außen kräftig angeschobenen Bürgerkriege entwuchsen Monster wie die Terrormiliz IS. Monster, bei denen auch der Westen als Geburtshelfer fungierte. Monster, die von einigen Seiten immer noch am Leben erhalten werden. Islamistische Extremisten dienten den Großmächten im weltpolitischen Schachspiel um Macht und Einfluss immer wieder als Erfüllungsgehilfen. Im Kampf gegen die Russen in Afghanistan lieferten die USA Waffen an die Taliban, im Kampf gegen den Iran wurde Iraks früherer Diktator Saddam Hussein auch von europäischen Ländern großzügig unterstützt – bis er von seinen früheren Helfern gestürzt wurde. Die letztlich rigoros gescheiterte US-Invasion im Irak hob tiefe ethnische und religiöse Gräben aus, die mittlerweile unüberwindbar scheinen. Hunderttausende wurden in den Untergrund und in die Hände radikaler Islamisten getrieben. In der militärischen Führung der Terrormiliz IS, die heute große Gebiete im Irak und in Syrien kontrolliert, haben ehemalige Offiziere aus Saddam Husseins Armee das Sagen. Sicher, die USA haben laut US-Präsident Barack Obama aus ihren Fehlern gelernt. Doch auch die blutigen Schlachtfelder in Syrien sind längst zum Spielfeld der Groß- und verfeindeten Regionalmächte geworden. Und die Zivilbevölkerung zum Bauernopfer.
Wer über die Flüchtlingskrise spricht, muss auch deren Ursachen benennen. Und für das Chaos im Nahen Osten kann sich der Westen nicht aus der Verantwortung stehlen.
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