Prisching: Das europäische Lebensmodell
Impulsreferat des österreichischen Soziologen bei ÖVP-Klubklausur
Wien (OTS/ÖVP-PK) - Über das europäische Lebensmodell im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdiskussion referierte heute, Donnerstag, der Soziologe Univ.Prof. Dr. Manfred Prisching bei der ÖVP-Klubklausur in Bad Leonfelden. In seinen einleitenden Worten ging er auf jüngst in einer Wochenzeitschrift argumentierte Wertevermittlung ein: „Der durchschnittliche Österreicher verdrückt jährlich 70 Kilo Fleisch und 108 Liter Bier, er hat mehr Goldfische als Katzen, jeder dritte raucht, jeder 33. ist bei der Feuerwehr – welche dieser Sitten sollen Flüchtlinge annehmen?“ Da sei nicht viel von einem gemeinsamen Wertekatalog zu finden und sei ein ziemlich verquerer Blick auf Europa und auf Österreich.
Die Welt der europäischen Werte sei schon etwas komplexer, verwies der Wissenschafter auf sechs Cluster der Wertelandschaften.
Das denkende Europa
Prisching wies auf die Entwicklung von der Dumpfheit zur Reflexivität hin, das Europa im Laufe der Jahrhunderte geschaffen habe, auf die Aufgeschlossenheit - Europa hat sich für die Welt interessiert und wollte sie erforschen – sowie auf die Vernunftkultur. Eine souveräne europäische Geisteshaltung gelinge nicht bei beschränktem Horizont, sondern nur in einem Rahmenwerk von Bildung und Wissenschaft.
Das freie Europa
Europa habe sich von der Grausamkeit zur Menschenwürde voran gearbeitet. Dazu würden auch die Elemente Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität essentiell gehören. Aber Liberalität, Menschenrechte, Gleichheit seien nur Orientierungspunkte, in konkreten Fällen gehe es um Abwägung von Freiheitsrechten und Freiheitseinschränkungen, verwies der Soziologe auf die aktuelle Flüchtlingsdiskussion: die Großzügigkeit des völkerrechtlichen Asylrechts sei abzuwägen gegen die Belastbarkeitsgrenzen von Immigrationsländern.
Das demokratische Europa
Demokratie bedeute nicht nur die Abhaltung von Wahlen. „Es ist eine voraussetzungsvolle Ordnung, und sie bedarf auch jenseits der Formalismen eines weiten Umfeldes politischer Kultur. Demokratierelevant sind auch die Handhabung öffentlicher Institutionen, die Medienpolitik, die öffentliche Propaganda, der Stil eines Wahlkampfes und vieles andere.“
Das reiche Europa
Prisching verwies auf das vierte Cluster: ein Europa des Wohlstands. „Europa ist ein Luxusland.“ Auch die zahlreichen Krisen seien gut überstanden worden. Die Mischung aus Abenteurertum und Rechenhaftigkeit, Eroberungsgeist und Buchhaltung sei eine Besonderheit des europäischen unternehmerischen Geistes. Das habe Europa im Vergleich mit der chinesischen und arabischen Zivilisation „davonziehen lassen. Dass dies in Europa gelungen ist, hat die zeitweilige Weltherrschaft Europas bewirkt.“ Zur Unternehmerwirtschaft sei die wohlverstandene Sozialpartnerschaftlichkeit gekommen, Schritt für Schritt der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und soziale Gerechtigkeit. Wir stünden allerdings vor der Herausforderung einer schwächeren Wachstumsgesellschaft der nächsten Jahre. Hinter all diesen Errungenschaften stecke selbstverständlich Leistung.
Das liquide Europa
Die entwickelten Gesellschaften Europas seien aus geschlossenen Denksystemen ausgebrochen und widersprüchlich geworden. „Wir leben in den Widersprüchen einer spätmodernen Verunsicherungsgesellschaft“, verwies Prisching auf „unser Vokabular“ wie Pluralisierung, Flexibilisierung, Individualisierung oder Lifestyle. Das heißt: viele Werte nebeneinander, durcheinander, widersprüchlich. Gleichzeitig gebe es in den letzten Jahrzehnten auch den Aufstieg neuer Werte: ein neuer Blick auf Frauen, eine höhere Sensibilität für andere Diskriminierungen – und niemals in der Geschichte waren die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern so gut.
Europa in der Weltgesellschaft
Die Herausforderung, das gemeinsame Europa zu gestalten, sei noch nicht abgehakt, im Gegenteil. „Europa ist hochdifferenziert: das leistungsstarke Zentrum einerseits, die östliche und die mediterrane Peripherie andererseits.“ Aber Konstruktionsfehler müssten beseitigt und Kontrollmechanismen eingeführt werden, wenn Europa nicht an die Wand fahren soll.
„Die Internationalität ist nicht nur eine der fernen Kämpfe“, sondern sei in ganz anderer Form auch vor Ort zu Hause, durch einen migrationsbedingten Kosmopolitismus. Die Äußerungen seien polarisiert: einerseits mitfühlend-multikulturelle Umarmung der ganzen Welt, andererseits provinziell-dumme Fremdenfeindlichkeit. Bei geringer Geburtenrate und hohem Bevölkerungsdruck von außen werde bis zum Jahrhundertende die vorhandene Population eine weitgehend andere sein, wohl auch mit anderen Weltvorstellungen. Auch dafür gelte das Prinzip des Experimentierens, was unsere geistige und unsere materielle Welt betreffe. Man sollte nicht auf Rezepte und Praktiken vertrauen, diese seien erst zu entwickeln. Islamische Staaten und Geisteshaltungen würden uns jedenfalls in zunehmendem Maße beschäftigen. „Wenn sich die arabische Welt auf ihre großartigen hochkulturellen Leistungen der Vergangenheit besinnt, sollte es gelingen, einen Islam zu entwickeln, der sich auf dem intellektuellen Niveau der Gegenwart befindet. Wer anders denkt, mit dem müssen wir verhandeln; und allenfalls müssen wir Unduldsamkeit, Rechtsverletzung und Terror bekämpfen, mit aller Härte.“
„Europa in seiner gegenwärtigen Verfasstheit ist sympathisch. Es ist ein denkendes, freies, demokratisches, reiches, liquides und europäisches Europa“, schloss Prisching.
(Forts.)
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