• 30.07.2015, 19:30:01
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Wiener Zeitung - Leitartikel von Thomas Seifert: "Auskotzen in 140 Zeichen"

Ausgabe vom 31.7.15

Utl.: Ausgabe vom 31.7.15 =

Wien (OTS) - Warum laufen Menschen in sozialen Medien verbal Amok?
Ist es digitaler Analphabetismus, eine affektive Störung oder
Logorrhoe, schön portioniert auf 140 Zeichen? Immer mehr
Social-Media-Usern brennen - nicht nur beim Thema Asyl und
Flüchtlinge - alle Sicherungen durch. Etwa dem Porsche-Lehrling
Jürgen H., der ein Foto des sechsjährigen Flüchtlingsmädchens Dunja,
das an einem der heißen Sommertage mit einer Wasserdusche der
Freiwilligen Feuerwehr abgekühlt wurde, mit den Worten kommentierte:
"Flammenwerfer wären da die bessere Lösung." Jürgen H. hat daraufhin
seinen Lehrplatz verloren.

So manchen Facebook- oder Twitter-Nutzern ist offenbar nicht ganz
klar, dass sie wegen bösartiger Postings bis zu zwei Jahre hinter
Gitter wandern können, wenn ein Gericht den Tatbestand der Verhetzung
(§ 283 StGB) erfüllt sieht. Verhetzung ist etwa, wenn jemand zur
Gewalt gegen eine Gruppe einer bestimmten Religion oder Hautfarbe
aufruft. Wenn jemand sich zudem in einem "nationalsozialistischen
Sinn" betätigt, kann das Strafausmaß auf 10 Jahre hinaufschnellen, in
besonders schwerwiegenden Fällen sogar auf 20 Jahre. Das wiederum ist
in §3 des Verbotsgesetzes geregelt.

Und vielen Facebook- und Twitter-Usern ist ebenso wenig klar, dass
ihre Meinungsäußerungen im vermeintlichen Freundeskreis nach dem
Gesetz öffentlich sind. Und es scheint etlichen ebenso wenig klar zu
sein, dass sie mit aggressivem Geschreibsel oder Postings deutlich
unter der Gürtellinie das Ansehen ihres Arbeitgebers schädigen und es
daher völlig legitim ist, wenn ein Arbeitgeber entscheidet, sich von
einem verbal-radikalen Mitarbeiter zu trennen, weil solche Personen
weder Kunden noch Kollegen zumutbar sind.

Die Welle der Hass-Postings ist zutiefst verstörend. Noch
verstörender ist, dass kaum etwas unternommen wird, um diese Welle zu
brechen. Warum wird es von Familie, Schule, Medien und Freundeskreis
verabsäumt, Mitmenschen die grundlegenden Benimmregeln in sozialen
Medien beizubringen?

Tatsache ist freilich auch, dass Boulevardzeitungsjournalisten mit
ausgeprägtem Hang zur publizistischen Pyromanie und stillose,
verbal-radikale Politrabauken am Verfall der sprachlichen Sitten und
an der Vergiftung des Diskurs-Klimas massiv mitverantwortlich sind.

www.wienerzeitung.at/leitartikel

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