• 20.08.2011, 17:58:53
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Die Presse am Sonntag - Leitartikel: "Vertrauenskrise in den Treibhaus-Demokratien", von Christian Ultsch

Ausgabe vom 21.08.2011

Wien (OTS) - Das Schuldenfiasko legt schonungslos die grundlegende
Schwäche von Regierungen in Europa und den USA offen,
Herausforderungen zu meistern, die über das symbolische Tagesgeschäft
hinausgehen.

Das Regieren ist ungemütlich geworden, nicht nur für arabische
Despoten. Auch die politischen Eliten westlicher Demokratien stehen
stärker denn je unter Druck. Die Schuldenkrise wirkt dabei wie ein
gnadenloser Druckluftverstärker, der die Unzufriedenheit verdichtet.
In Europa und in den USA sinkt das Vertrauen in Politiker mindestens
ebenso rasant wie die Börsenkurse.
Der sich verfestigende Eindruck, dass weder die amerikanische noch
die (nicht existente) europäische Führung ihr jeweiliges
Schuldenfiasko trotz monatelanger aufgeregter Bemühungen in den Griff
bekommen, verunsichert nicht nur irgendwelche abstrakten Märkte,
sondern vor allem die Bürger. Was die erstmals in den 80er-Jahren
aufkeimende Politikverdrossenheit in den medial aufgeheizten
Treibhaus-Demokratien noch an Restvertrauen in die Volksvertreter
übrig gelassen hat, wird jetzt zersetzt.
Ein Wesenszug der Treibhaus-Demokratien ist die permanente Ablenkung
vom Wesentlichen, die Konzentration auf die schnelle Aufzucht
substanzloser Gewächse, um das Publikum bei Laune zu halten. Die
gärtnerische Spezialisierung auf politische Produkte mit geringer
Haltbarkeit reicht jedoch nicht aus, um eine Herausforderung zu
meistern, die alle Anzeichen einer Zeitenwende trägt.
Was 2007 als Krise des Finanzsystems begonnen hat, hat sich zu einer
Krise der Staaten ausgeweitet. Das vermeintliche Comeback des Staates
als Retter der Weltwirtschaft währte nicht lange. Die Billionen, die
nach dem Lehman-Crash im Kampf gegen den wirtschaftlichen Kollaps in
die Schlacht geworfen wurden, lasten nun tonnenschwer auf den
Staaten. Und Länder, die schon davor keine Budgetdisziplin kannten,
drohen nun unter den Schulden zusammenzubrechen.
Das Hochstaplerprinzip, mehr auszugeben, als man hat, taugt nicht
mehr als Rezept für Wachstum. In Zukunft muss nachhaltiger
gewirtschaftet, das ganze System umgestellt werden. Und das wird
schmerzhaft, weil es mit Einbußen verbunden ist. Schon aus
demografischen Gründen ist seit Jahren klar, dass die meisten
europäischen Sozialsicherungssysteme nicht finanzierbar sind. Die
Schuldenkrise wird diese Verteilungskonflikte zuspitzen. Die Linke
kann sich davon kurzfristig populistischen Aufwind erwarten.
Langfristig wird sie jedoch ebenso zurückgedrängt wie der Staat, wenn
sie sich nicht abseits alter etatistischer Ideen neue
Gerechtigkeitskonzepte einfallen lässt.
Viele von denen, die nun die Führungsschwäche von Politikern
beklagen, würden ebenso laut aufheulen, wenn sich Regierungen zu
Einschnitten im Sozialsystem durchringen sollten. Das ist die
Doppelmühle, in der sich die Politik befindet. Laviert sie weiter,
wird ihr zauderndes Versagen vorgeworfen. Handelt sie, riskiert sie
soziale Proteste.
Einen Ausweg aus dem Dilemma werden die Regierenden nur finden, wenn
sie wagen, die Richtung vorzugeben. Nur wenn das Ziel klar ist,
werden die Bürger mitgehen. Das wiederum bedarf einer anderen
Revolution, einer partizipatorischen: einer Überwindung der
Zuschauer- und Keppel-Demokratie.

Rückfragehinweis:
Die Presse
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Tel.: (01) 514 14-445
mailto:chefvomdienst@diepresse.com
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