• 06.04.2011, 18:19:24
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"DER STANDARD"-Kommentar: "Schwarzes Loch inmitten Europas" von Eric Frey

Westerwelles Teilrückzug ändert noch nichts an Deutschlands Führungsschwäche

Wien (OTS) - Ob Guido Westerwelle mit seinem Rücktritt als
FDP-Chef und Vizekanzler seiner Partei aus der Krise heraushelfen
wird, bleibt abzuwarten. Aber eines ist sicher: Die tiefen Probleme,
die der Liberale gemeinsam mit seinen Koalitionspartnern in den
vergangenen Monaten Europa bereitet hat, bleiben erhalten - mit oder
ohne einen Außenminister Westerwelle.
Da ist etwa der Zerfall der deutsch-französischen Achse in der
Außenpolitik. Die Enthaltung zur Libyen-Resolution im
Weltsicherheitsrat war ein Sündenfall der deutschen
Nachkriegsdiplomatie - eine Abkehr von den Verbündeten in einer für
Europa entscheidenden sicherheitspolitischen Frage. Man könnte
dahinter den Beginn eines gefährlichen deutschen Sonderwegs vermuten,
wenn es nicht so offensichtlich wäre, dass sich die Berliner
Regierung allein von wahltaktischen Motiven hat leiten lassen. Doch
die Folgen sind klar: Die Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik in der EU haben einen weiteren Rückschlag
erlitten.
Die gleichen populistischen Reflexe mit europäischen Implikationen
waren bei der panikhaften Reaktion auf die Atomkatastrophe von
Fukushima zu sehen. Natürlich hat Deutschland das Recht, einen
Ausstieg aus der Kernkraft einzuleiten. Aber die Form dieses
Kurswechsels - ein sofortiges Moratorium ohne langfristige Strategie
- hat nicht nur das Ziel verfehlt, der CDU-FDP-Koalition die Macht in
Baden-Württemberg zu sichern; es bringt nicht nur der Bundesrepublik
milliardenschwere Schadenersatzklagen der AKW-Betreiber mit hoher
Erfolgschance ein.
Ohne flankierende energiepolitische Maßnahmen würde Deutschland mit
dem Abschalten von sieben Alt-Reaktoren seinen Ausstoß von
Treibhausgasen deutlich erhöhen und so die EU-Klimaschutzpolitik
untergraben. Auch hier hat man in Berlin jede Rücksichtnahme auf
übergreifende Interessen vermissen lassen.
Die größten Versäumnisse der deutschen Politik werden bei der
Bewältigung der Euro-Schuldenkrise sichtbar. Von Anfang an war die
Regierung Merkel zerrissen zwischen der Sorge um den Euro und der
Angst, in den Augen von Bild und Stammtischrunden als Zahlmeister
Europas zu erscheinen. Die Folge war eine Politik, in der die Union
den Finanzmärkten stets hinterhergehechelt ist und nie die Initiative
ergriffen hat. Trotz aller Rettungsschirm-Milliarden ist die
EU-Politik zögerlich geblieben und war stets nur darauf angelegt,
Zeit zu gewinnen.
Die Märkte wurden davon allerdings nie überzeugt, und die Mischung
aus hohen Zinsen und brutalen Sparprogrammen für die Krisenstaaten
hat jetzt genau in jene Spirale aus Dauerrezession und explodierenden
Schulden geführt, vor der Ökonomen von Anfang an gewarnt haben. Am
Ende dürfte die von Deutschland so gefürchtete Umschuldung, die die
eigenen Banken hart treffen würde, wohl unvermeidlich werden - und
viel mehr kosten, als wenn man dies gleich angegangen wäre.
Für all diese populistischen Bocksprünge tragen Westerwelle und die
FDP nur einen Teil der Verantwortung. Aber es fällt auf, dass
Kanzlerin Merkel noch in der Koalition mit der SPD mehr europäische
Visionen und Führungsstärke gezeigt hat. Vielleicht nützt sie den
Neustart beim Koalitionspartner für eine Rückbesinnung auf einstige
Tugenden. Wenn nicht, dann wird das schwarze Loch inmitten Europas
noch viel Schaden anrichten.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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